Der Atem der Angst (German Edition)
gewusst. So einfach gab ihr Schatz nicht auf. Traute sich sogar, bei ihren Eltern anzurufen. Wie mutig er war. So mutig und voller Liebe. Niemand kannte sie so gut, wie er sie kannte. Heute hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Hier! Im Schuppen! Unwillkürlich lachte Michelle auf. Das war alles so komplett verrückt. Morgen waren sie genau ein Jahr zusammen.
Lautlos zog sich Michelle hinter das Regal mit den leeren Blumentöpfen und den Torfsäcken zurück. Ein schmaler Lichtbalken fiel auf ihr Gesicht, als sie mit weit aufgerissenen Augen abwartete, ob ihre Mutter mit dem Telefon zu ihr rauskommen würde.
» Michelle!«
Oh bitte! Bitte nicht! Ihre Mutter sollte nicht nach ihr suchen. Sie sollte auflegen und ins Haus zurückgehen. Louis sollte aufgeben. Aber natürlich würde er das nie tun.
14 . LOUIS
Louis stieß die Haustür auf und stellte sein Rennrad in den muffigen Hausflur. Julian und er hatten die Schule sausen lassen und waren den gesamten Vormittag über in der Stadt herumgefahren. Jeden, der ihnen auf der Straße begegnet war, hatten sie nach Leonie gefragt. Niemand wusste etwas. Die meisten St. Goldener hatten ein Foto von ihr in ihre Autofenster oder auf Laternenpfähle geklebt. Alle suchten nach ihr, doch niemand schien das kleine Mädchen gesehen zu haben. Louis schloss die Haustür hinter sich und lauschte. Nichts zu hören. Neben dem Durchgang zum Wohnzimmer standen mehrere Plastiktüten voller Leergut. Alles Bierflaschen, höchstpersönlich von seiner Mutter ausgetrunken. Daneben stand ihr großer Plastikschminkkoffer, der vollgestopft war mit bunten Lockenwicklern, Haarspray und dem Glätteisen.
» Mama?«
Louis warf einen Blick ins Wohnzimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Der Fernseher lief ohne Ton. Auf dem Couchtisch standen ein paar Bierflaschen um eine halbvolle Schnapsflasche herum. Von hinten näherte er sich dem Sofa und warf einen Blick über die Lehne. » Mama?«
Normalerweise lag sie hier, wenn sie es nachts nicht mehr bis rauf ins Bett geschafft hatte. Jetzt lag da nur eine fleckige Wolldecke. Drüben auf dem Esstisch häufte sich ungeöffnete Post. Er ging in die Küche. In der Spüle stapelte sich dreckiges Geschirr. Auf der Anrichte stand ein Spiegel, daneben lagen eine Drahtbürste, eine Schere und ein Fön. Alles Zeug, was seine Mutter benutzte, wenn sie den Nachbarinnen in der Küche für ein bisschen Kleingeld die Haare schnitt. So sah sein Leben aus. Die komplette Müllhalde. Seine Familie war kaputt. Vater weg, Schwester weg, Mutter so gut wie weg. Und nun war auch noch die kleine Schwester seiner Freundin weg. Und Michelle hatte ihr Telefon abgeschaltet und war für ihn nicht mehr zu erreichen. Er würde nicht zulassen, dass sie das Gleiche durchmachen musste wie er. Er würde Leonie rechtzeitig finden. Mit Hilfe seiner Mutter. Denn eines war klar: Die Fälle ähnelten sich. Jetzt musste in diesem Haus mal über den Tod gesprochen werden, der stumm mit ihnen wohnte– bevor er auch noch ins nächste Haus einzog.
» Mama?«
Weil keine Antwort kam, stieg Louis die Treppe rauf und öffnete die Schlafzimmertür seiner Mutter. Die Rollos waren nur halb heruntergelassen, durch den Spalt drückte sich das herbstliche Licht des Nachmittags. Auf dem breiten Ehebett lag ein Haufen Decken, unter dem ein nussbraunes Haarbüschel, ein nackter Fuß und eine schlaff über die Bettkante hängende Hand hervorlugten. Er hörte seine Mutter leise schnarchen.
» Mama?«
Louis machte einen Schritt ins Zimmer. Normalerweise vermied er es, Bella in diesem Zustand anzusprechen. Widerstrebend setzte er sich zu ihr auf die Bettkante. Es war eklig. Auf dem Boden lag ihre ausgebeulte Trainingshose. Daneben ihr fleckiges Sweatshirt. Neben dem Kopfende standen drei ausgetrunkene Bierflaschen, eine davon war umgekippt und hatte eine stinkende Lache auf dem ehemals cremefarbenen Teppich hinterlassen. Das ging schon viel zu lange so.
» Mama!«
Louis legte seine Hand auf den Deckenberg und ruckelte daran herum. » Aufwachen!«
Als Antwort kam ein genervtes Grunzen.
» Verdammt! Mama! Wach auf!« Er ruckelte heftiger an den Decken, bis sich endlich die heraushängende Hand bewegte.
» Schatz! Bitte lass mich schlafen. Mir geht’s nicht gut.«
Das reichte. Mit einem Ruck riss Louis die drei Steppdecken weg, sodass nur noch seine Mutter auf dem Laken lag– zusammengekrümmt und in Unterwäsche. » Steh auf!«
Er ging hinüber ins Bad, füllte den Zahnputzbecher mit kaltem
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