Der Atem der Angst (German Edition)
da?«
Bevor Michelle antworten konnte, kam Sarah mit dem Kaffee aus der Küche ins Wohnzimmer. Sie hatte violette Ringe unter den Augen. Erst als sie wieder aus dem Raum war, sprach Michelle weiter. » Bella, also die Mutter von Lou, ist Friseurin, und Leonie spart immer ihr ganzes Taschengeld, um sich bei ihr eine Farbsträhne machen zu lassen. So eine knallpinke, wie sie die Mädchen jetzt alle haben. Und weil Nini so eine treue Kundin bei Bella ist, hat Bella ihr versprochen, ihr die nächste Strähne kostenlos zu machen.«
» Wann?« Heidi musterte Michelle.
» Morgen, vor dem großen Halloweenumzug.« Das Mädchen wirkte jetzt vollkommen teilnahmslos. Auf diese merkwürdige Art teilnahmslos, wie eigentlich nur Menschen wirkten, die keine Hoffnung mehr hatten. Anders als ihre Eltern Jens und Sarah, die hellwach waren und ständig mit neuen Überlegungen aufwarteten, in der Hoffnung, doch noch irgendeinen brauchbaren Hinweis zu geben. Aber Michelle, das sah Heidi, schien abgeschlossen zu haben. Ihr Blick war stumpf. Beinahe tot.
» Na dann wollen wir mal weiter.« Heidi stand auf und gab Henner ein Zeichen, dass es Zeit war, sich zur Beratung zurückzuziehen. Er trank den dampfenden Kaffee so schnell aus, dass er sich fast verbrühte. Sarah kam aus der Küche, um die beiden zur Haustür zu bringen. An der Wohnzimmertür drehte sich Heidi noch einmal zu Michelle um. » Du hättest uns erzählt, wenn du was weißt, oder?«
» Ja, sicher.« Michelle verschränkte die Arme vor der Brust.
Dieses Mädchen log. Das war ganz klar. Es war nur nicht klar warum. Drohend zeigte Heidi mit dem Finger auf Michelle. » Wenn du jetzt schweigst, machst du dich schuldig am Tod deiner Schwester. Das ist dir hoffentlich klar.«
Sarah blickte erschrocken zu Henner. » Was soll das? Warum redet sie so mit Michelle?«
Doch bevor ihr Kollege einschreiten konnte, fragte Heidi schon mit ganz ruhiger Stimme: » Liebst du deine Schwester?«
Da packte Henner Heidi wütend am Arm. » Jetzt reicht es aber. Lass diese armen Leute in Frieden! Die haben schon genug durchzustehen!«
Doch Michelle wirkte, als hätte sie mit genau dieser Frage gerechnet. Denn plötzlich lächelte sie. » Mehr als alles andere auf der Welt.«
12 . MAYA
Maya hielt die Luft an und tauchte ihren Kopf tief ins eisige Bachwasser. Sie musste diesen Schmerz loswerden, vielleicht ließ er sich gefrieren. Klar war es unvernünftig, was sie da tat. Bei diesem feuchten Wetter würde es Ewigkeiten dauern, bis ihre Haare wieder trocken waren. Aber eigentlich war es sowieso schon egal, auf welche Art sie draufging. Sie würde so oder so draufgehen. Entweder an einer astreinen Blutvergiftung. Oder an Hunger und Unterkühlung.
Sie lag bäuchlings auf den bemoosten Steinen, die aus dem Wasser herausragten, und tauchte ihren Kopf, nachdem sie Luft geholt hatte, erneut in den Bach. So lange sie ihn ganz unter Wasser hielt, hörte sie nur das Gurgeln der Strömung. Sie spürte das eisige Nass auf ihrer Haut und wie der Sauerstoff immer knapper wurde. Als sie beinahe ohnmächtig vor Kälte war, als ihre Schläfen hämmernd und wütend gegen diese Folter rebellierten und Maya keine Luft mehr bekam, riss sie ihren Kopf wieder aus dem Wasser, das kalt über ihr Gesicht perlte und in ihre Fellkleider sickerte.
Unter Auferbietung ihrer letzten Kräfte stand Maya auf und stolperte den Bachlauf hinunter, in Richtung Bahnschienen. Dort würde sie auf die nächste Bergbahn warten, hinten aufspringen und mit ihr hinunter nach St. Golden fahren, um ihrem alten Zahnarzt einen Besuch abzustatten. Ohne seine Hilfe würde sie die entzündeten Wurzeln niemals aus ihrem Kiefer bekommen. Zum Teufel mit den Widerwärtigen. Schlimmeres als diesen Schmerz konnten die ihr auch nicht antun.
Nachdem sie sich den Hang hinunter und durch das hohe Laub gekämpft hatte, entdeckte sie weiter unten in einer Mulde etwas Rotes. Da lag es hinter einem umgekippten Kieferstamm, der beim letzten Sturm aus der Erde gerissen und den Hang hinuntergestürzt sein musste.
Maya rieb sich mit dem Unterarm über ihre Augenlider, um sicher zu sein, dass sie sich nichts einbildete. Ja! Da lag etwas Rotes. Sie taumelte näher heran, während sie sich zunehmend von den Schienen entfernte. Immer wieder hielt sie inne und lauschte. Wenn die Bergbahn kam, würde sie schnell zu den Schienen zurückmüssen, um den Zug nicht zu verpassen. Sie war entschlossen, in die Stadt zurückzukehren. Irgendwer würde sie da unten schon
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