Der Atem der Angst (German Edition)
Worte. Dann gab sie dem Kasten mit der Fußspitze einen Schubs. Er kippte um. Mit einem Ruck fiel sie nach unten, bis sie ein paar Zentimeter über dem weichen Waldboden vom Strick abgefangen wurde. Dann verlor sie das Bewusstsein.
19 . BELLA
Bella trank ihr Bier aus, bis sie ganz und gar mit Watte ausgefüllt war und nur noch verschwommen wahrnahm, was da über die Mattscheibe flimmerte. Wie hatten sie nur so schnell das kleine, tote Mädchen im Wald finden können? Nicht weit von der Stelle, an der ihre Tochter als einsames Englein in den Himmel hinaufgestiegen war. Es war grausam, wenn einer Mutter das Kind genommen wurde. Etwas Grausameres war nicht denkbar auf dieser Welt. Es gab nichts, was man dagegen tun konnte. Man konnte sich vor dem Bösen nicht schützen. Es passierte einfach. Plötzlich und unvorbereitet tauchte es auf und schlug unbarmherzig und mit aller Macht zu. Das würden auch diese Eltern, die jetzt ihr Kind verloren hatten, erfahren. Jens und Sarah. Ihre ehemals besten Freunde. So, wie Bella es damals erfahren hatte. Von herumstotternden Polizisten, die einem vor Scham nicht in die Augen sehen konnten.
Über den Verlust des eigenen Kindes kam man nicht hinweg. Der Schmerz war immer da. Morgens, noch bevor man aufgewacht war, saß er schon grinsend auf der Bettkante und begrüßte einen. Und am Abend wartete er seelenruhig, bis man eingeschlafen war. Erst dann legte er sich zur Ruhe. Man wurde ihn einfach nicht los. Egal, wie viel Bier man trank. Die einzige Möglichkeit, ihn klein zu kriegen, war, ihn zu teilen. Und zwar mit so vielen Menschen wie möglich.
20 . HEIDI
Gegen halb zwei schloss Heidi die Tür auf und trat ins dunkle Haus ein. Es war totenstill. Sie knipste das Licht im Flur an. Auf dem Boden lag Winnies Winterjacke, gleich daneben sein umgekippter Ranzen. In allen Räumen war das Licht gelöscht. So, wie Heidi es ihrem Sohn beigebracht hatte. Braves Kind. Heidi machte einen Schritt über die ausgekippten Schulbücher. Winnie hatte keine Angst, alleine zu Hause zu bleiben. Er war ein furchtloser kleiner Junge, der es gewohnt war, sich abends selbstständig ins Bett zu legen, und im nächsten Augenblick auch schon eingeschlafen war. Warum flogen hier überall seine Sachen rum? Sah aus, als hätte er etwas gesucht.
Heidi zog sich ihre matschverschmierten Aerobicschuhe aus, warf die Wetterjacke auf einen der Umzugskartons, die noch immer im Eingang herumstanden, und ging hinüber in die Küche. Neben dem Toaster stand die offene Toastpackung. Die räumte Winnie nie weg, egal, wie oft sie es ihm schon gesagt hatte. » Räum den Toast weg, wenn du ihn nicht mehr brauchst.« Seltsamerweise legte er aber die Wurst und den Käse ordentlich zurück in den Kühlschrank.
Auf seinem Teller, den er zusammen mit dem Milchglas und den Brotkrümeln auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte, lag sein angebissenes Sandwich. Der Kochschinken-Käse-Ketchup-Toast. Winnies Spezialität. Heidi verdrückte den Rest mit ein paar Happen und ging weiter ins Wohnzimmer. Die Kissen waren vom Sofa gestrampelt, auf dem Couchtisch lag sein Mathebuch neben Schokoriegelpapieren. Heidi knüllte sie zusammen und warf sie in einen der Umzugskartons. Woher Winnie die wieder gehabt hatte? Als sie bei Sarah und Jens kurz Leonies Ranzen untersucht hatte, hatte sie auch solche entdeckt. Musste sie das beunruhigen? Oder sah sie schon Gespenster? Verteilte diese Bestie Schokoriegel an die Kinder, um sie zu ködern? Sie würde Winnie danach fragen. Gleich morgen früh.
Auf dem Sofa liegend, schloss sie für einen Moment die Augen. Sie war so müde. Alles tat ihr weh. Sie wurde diese Bilder nicht los. Leonies fragende Augen. Ihre aufgeschürften Hände. Der Delfinring. Der Turnanzug. Die Erde. Der Wald. Die glücklichen Eltern, deren Kind wie durch ein Wunder gerettet wurde, auch wenn es nun im Krankenhaus lag und noch immer in Lebensgefahr schwebte. Heute Nacht hatten unschuldige Eltern beinahe ihr Kind verloren. Heute Nacht hatten verzweifelte Eltern ihre Tochter zurückbekommen.
Und hier lag sie: Heidi. Eine Kommissarin, die ihre eigene Familie zerstört hatte, um andere wieder zusammenzuführen. Sie öffnete die Augen. Um sie herum das Resultat ihrer Unbelehrbarkeit. Sie hatte nur an ihre Arbeit gedacht. Und das war der Preis: unausgepackte Umzugskartons, Fenster ohne Gardinen, nackte Glühbirnen, die von den Zimmerdecken baumelten. Zusammengerollte Teppiche in der Garage. Und ein Kind, das sich abends allein
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