Der Atem der Angst (German Edition)
abgebrochenen Wurzelenden aus dem entzündeten Knochen zu hebeln. Völlig umsonst. Sie hatte nur alles noch viel schlimmer gemacht. Gegen diese unerträglichen Schmerzen würde sie jetzt vorgehen. Mit dem letzten Mittel, das ihr zur Verfügung stand. Sie würde sich einen noch schlimmeren Schmerz zufügen, um den in ihrem Kiefer zu überdecken. Um massenhaft Endorphine auszuschütten. Wie das ging, hatte sie von ihrem Vater gelernt– allerdings nur theoretisch. » Für alle Fälle«, hatte er gesagt, als er es ihr erklärt hatte. Dazu brauchte sie Feuer und Glut.
Maya hob ihren Kopf und lauschte. » Hast du was gehört?«
Lukas zuckte mit den Schultern. Das sah Maya ganz genau.
» Dir ist schon klar, was passiert, wenn die Widerwärtigen uns finden? Dann wird eine Menge Blut fließen. Und vielleicht auch deins!«
Mayas Augen klappten zu. Sie riss sie wieder auf, denn sie musste vollkommen wach bleiben. Auch wenn es ihr schwer fiel. Die Kiefern rauschten über ihr. Ansonsten war da kein Laut. Kein Knacken. Kein fremdes Atmen. Oder doch? Sie musste aufpassen, dass sie sich nichts einbildete. Sie musste bei der Sache bleiben, um nicht in Panik zu geraten. Jetzt galt es, Feuer zu machen.
Bis vor Kurzem hatte sie ein blaues Plastikfeuerzeug besessen. Sie hatte es nachts an der Bergbahnstation unter den Sitzen des Wartehäuschens gefunden. Inzwischen war das Gas aufgebraucht. Noch einmal hatte sie nicht solches Glück gehabt und ein Feuerzeug gefunden. Offenbar passten die Leute besser auf diese Dinger auf als auf ihre Kinder.
Sie setzte die geschnitzte Spindel auf dem Bohrbrett auf und drehte sie zwischen den Handflächen schnell hin und her. Bis feiner Rauch aufstieg. Eilig hielt Maya die in Streifen gerissene Lindenrinde an die Glut, bis sie Feuer fing. Vorsichtig blies sie in die winzigen Flammen. Als sie gierig züngelten, häufte Maya dünne Holzscheite auf und ließ das Feuer herunterbrennen. Als sie genügend Glut hatte, hielt sie die Spitze eines langen Astes hinein und wartete, bis auch er richtig glühte. Es half nichts, sie musste es tun. Sie musste sich diese rot glühende Spitze ins Fleisch bohren. Entschlossen blickte sie hinüber zu Lukas, der jetzt doch ein kleines bisschen interessierter wirkte. » Dann wollen wir mal.«
Teilnahmsvoll blickte er sie mit seinen schwarzen Knopfaugen an. Total ahnungslos, wie gut er es hatte, dass er nur aus Plüsch und Füllmaterial bestand. Maya zog den Ast aus der Glut und drückte die heiße Spitze oberhalb ihres Handgelenks in den Arm, bis sie auf dem Knochen auftraf. Maya schrie auf. » Oh ja! Ja! Gib es mir! Gib mir den Schmerz und die Endorphine. Ich will sie alle haben.«
Es roch nach verbranntem Fleisch. Nach Tod und Vergänglichkeit. Maya riss den Ast zurück und schleuderte ihn ins Gebüsch. Auf ihrem Unterarm leuchtete ein roter Punkt rohen Fleisches. Für einen Moment schloss sie die Augen und sog die Luft tief durch die Zähne ein. Bis sich der schlimmste Schmerz einigermaßen beruhigt hatte. Für einen glücklichen Augenblick spürte sie gar nichts mehr. Ihre Nerven waren vollkommen betäubt. Dann kehrte der Schmerz langsam wieder zurück. Und mit ihm die Angst. Träge öffnete Maya ihre Lider und lächelte Lukas an. Ihre Stimme klang rau. » Ich werde sterben, wenn ich nicht nach St. Golden hinuntergehe. Du weißt, dass es so ist.«
Irgendwie machte ihr Teddy jetzt einen betroffenen Eindruck, so wie er da zwischen ihren nackten Beinen auf dem Waldboden lag. Sie nickte. » Doch wenn ich runter nach St. Golden gehe, werde ich vielleicht auch sterben. Oder sie werden mich hier oben finden. Was soll ich machen?«
Lukas antwortete nicht. Starrte sie nur an. Als hätte er mit der ganzen Sache nichts zu tun. Dieser Teddy nervte so wahnsinnig. Maya gab ihm einen kräftigen Tritt und zischte: » Los! Blödi! Rede mit mir! Wird’s bald!«
Er blieb einfach, Gesicht nach unten, im Laub liegen.
Maya seufzte. » Dann eben nicht.«
Sie schleppte sich von der glühenden Feuerstelle zurück in die Höhle und ließ sich in die Felle sinken. Nur für ein paar Sekunden. Nur für eine Minute wollte sie die Augen schließen und sich dem süßen Sog hingeben, einfach von der Welt zu verschwinden. Ihre Zähne klapperten aufeinander. Sie zog ihren Fellumhang fester um sich. Sollte sie nicht besser das Feuer ganz löschen? Oder Lukas hereinholen? Hinterher würde der rauchige Geruch oder dieser filzige Fellklumpen noch ihr Versteck verraten.
Aber sie konnte nicht
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