Der Atem der Angst (German Edition)
das okay.«
Ihre Eltern nickten. » Na gut. Schick aber sofort eine SMS , wenn du bei ihr angekommen bist.«
Michelle lächelte matt. »Versprochen. Danke!«
Von jetzt an hatte sie nur noch eine Stunde. Eine Stunde, um hinauf in den Wald zu gelangen. Eine Stunde, um Leonie zu retten. Zum Abschied küsste sie ihre Eltern. Es war ein Abschied für immer.
Sie flüsterte: » Ich hab euch lieb.«
Bevor sie losweinte, drehte sie sich eilig um und verschwand in den Flur. Dort nahm sie das gerahmte Bild ihrer kleinen Schwester von der Kommode und verstaute es im Rucksack, in dem sich außerdem das Seil, eine Taschenlampe und Paketband befanden. Den leeren Wasserkasten aus dem Keller hatte sie schon vor die Tür gestellt.
Erst draußen im Garten zog sie sich ihre Chucks an, zwängte sich zwischen den eng stehenden Häusern hindurch bis zu den Mülltonnen. Unter der gelben Tonne tastete sie den Boden ab. Da war es. Wie ihr vor zehn Minuten per SMS angekündigt worden war. Ein voll aufgeladenes Handy. Michelle stopfte es in die Tasche ihrer Kapuzenjacke und lief mit dem leeren Wasserkasten in der Hand die nächtliche Straße hinunter, am spärlich beleuchteten Friedhof vorbei. Sie war allein. Als seien alle geflohen. Vor dem Unheil. Dem Bösen, dessen erbarmungslose Anweisungen sie nun gehorsam befolgte. Sie war doch erst sechzehn Jahre alt. Warum hatte alles schon heute Nacht ein Ende?
Bevor sie nicht widerstehen konnte, zu Louis zu rennen, lief Michelle direkt in die von grellgelbem Licht erhellte Unterführung hinein. Ihre Schritte hallten von den Betonwänden wider. Ihr Schatten an der Wand war riesengroß. Als wollte er sie verschlingen. Ihr Atem stach in der Brust. Der Wasserkasten schlug gegen ihre Beine. Kein normaler Mensch, erst recht kein Mädchen, lief freiwillig kurz vor Mitternacht hinauf in den Wald. Sie wollte weinen, um diese Anspannung loszuwerden. Aber rennen und weinen– das ging nicht.
Während des Aufstiegs hoch zum Wasserfall kamen Michelle nacheinander drei Wagen entgegen. Um nicht von den Scheinwerfern erfasst zu werden, zog sie sich eilig ins Unterholz zurück. Erschrocken stellte sie fest, dass sie sich mit der Wegstrecke total verkalkuliert hatte. Mindestens drei Kilometer musste sie noch den Berg hinauf und mindestens zweihundert Meter den Trampelpfad entlang, bis sie den Wasserfall erreichte. Dafür blieben ihr nur noch zwanzig Minuten.
Was, wenn sie zu spät die Nummer auf ihrem Unterarm anrief? Würde die Stimme noch ein paar Minuten Geduld mit ihr haben? Oder würde sie auf die Sekunde genau beschließen, dass Michelle es nicht geschafft hatte? Dass sie sich nicht an die Anweisungen gehalten hatte. Würde die Stimme dann ihre kleine Schwester töten? Zum Zeichen, dass das Böse nicht mit sich verhandeln ließ? Was überhaupt sollte hier verhandelt werden? Wo war Leonie? Hatte sie Angst? War sie gefesselt? Wurde sie gequält? Hatte sie Schmerzen? Hunger? Durst? Hatte sie ein wenig geschlafen? War ihr kalt? Durfte sie auf die Toilette gehen oder hatte sie sich in die Hose gemacht?
Michelle rannte.
Sie durfte nicht zu spät kommen.
Wenigstens würde sie nicht als Jungfrau sterben.
Der Wald war still. Nur ab und an klatschte von oben ein dicker Tropfen auf ihren Kopf oder den Arm. Die schwarzen Kiefernwipfel wogten wie riesige schwarze Zipfelmützen in der kalten Nachtluft. Abseits der Straße knackte es im Unterholz. Außerhalb des Lichtkegels ihrer Taschenlampe war es schwarz. Vollkommen schwarze Nacht.
Michelle kämpfte sich eine Schneise durch den hüfthohen Farn, bis sie auf den versteckten Trampelpfad traf, der direkt zum Wasserfall führte. Als Kind war sie ein einziges Mal mit ihrem Vater und ihrer Mutter im Sommer hier oben gewesen. Überall surrten die Mücken, setzten sich auf die verschwitzte Haut, bis man total zerstochen war. Im Nu waren ihre Chucks durchweicht. Ihre Jeans saugten den Niederschlag von den federförmigen Blättern auf, die im weißen Taschenlampenlicht unnatürlich grün aussahen. Noch sechs Minuten.
Michelle rannte den glitschigen Trampelpfad hinunter, bis das Rauschen des Wasserfalls deutlich vom Rauschen des Waldes zu unterscheiden war. Irgendwo hier sollte ein kahler Baum auf einer Lichtung stehen. Sie ließ den Lichtkegel über die geisterhaften Bäume und Farne streifen. Für einen grausigen Augenblick meinte sie einen flüchtigen Schatten hinter einem der Stämme zu erkennen. Da vorne war die Lichtung. Wartete da jemand auf sie? Warum hatte sie
Weitere Kostenlose Bücher