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Der Atem der Angst (German Edition)

Der Atem der Angst (German Edition)

Titel: Der Atem der Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexa Hennig von Lange
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gefährlich. Doch bevor es auf dem feuchten Asphalt wegrutschen konnte, schoss Louis am Fuß des Berges in die neonlichthelle Unterführung hinein. In die Schleuse, die St. Golden von der bewaldeten Bergwelt trennte. Die Schleuse, durch welche die Kinder seit Isabels Tod nicht mehr alleine gehen durften, damit sie nicht auch in den Wald verschleppt wurden. Seit damals war die Unterführung zum Tor geworden, das die sichere, heile Welt der Stadt von der unheilvollen oben in den Wäldern trennte. So dachten die Leute von St. Golden. Doch sie hatten sich getäuscht: Das Böse lebte offenbar direkt unter ihnen. Unerkannt. In einem der Häuser. Es ging zur Arbeit. Kaufte ein. Plauderte mit den Nachbarn. Hungrig war es aus seinem Alltag erwacht und hatte zugeschlagen. Und es würde erneut zuschlagen. Es war nur eine Frage der Zeit. Es war einer von ihnen.
    Hinter der Unterführung bog Louis in die Fußgängerzone ab, während der Notarztwagen den nächsten Berg wieder hinaufschoss– in Richtung Kreisstadt. Wie ging es Michelle? Warum wollte sie nicht mit ihm sprechen? Er vermisste sie so sehr. Er hätte alles dafür gegeben, bei ihr zu sein. Im Morgengrauen würde er wieder zu ihr fahren und Steinchen an ihre Fensterscheibe werfen. So leicht ließ er sich nicht abschütteln. Er hatte niemandem etwas getan. Er würde sie durch die Dunkelheit der nächsten Wochen begleiten.
    Hinter der Blumenhandlung bremste er vor dem baufälligen Fachwerkhaus ab, in dem er mit seiner Mutter wohnte. Er schloss die Haustür auf und trug sein Rad in den Flur. Die Tüten mit den leeren Bierflaschen standen noch immer im Eingang. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Jetzt wieder mit Ton. Seine Mutter hockte mit angezogenen Knien auf dem durchgesessenen Sofa. Am Hinterkopf waren ihre Haare verklebt, als hätte sie die lange nicht mehr gekämmt.
    Louis blieb hinter dem Sofa stehen. » Bin wieder da.«
    Er wartete, aber sie drehte sich nicht einmal zu ihm um. Wie eine Gehirnamputierte blätterte seine Mutter Zeitschriften durch, während sie auf den Fernseher starrte. Es war sinnlos. Er brauchte ihr gar nicht erst zu erzählen, was er gerade Grauenhaftes gesehen hatte. Trost war von ihr definitiv nicht zu erwarten.
    » Wo warst du?«
    » Billard spielen, wo sonst?!«
    Er war schon wieder an der Tür.
    » Und warum bist du so außer Atem?« Seine Mutter sah auf ihr Handy, das neben ihr auf der Armlehne lag. » Es ist Viertel vor elf. Morgen ist Schule.« Endlich drehte sie sich zu ihm um. Ihr Blick war glasig. »Geh ins Bett.«
    Louis zuckte mit den Schultern: » Gute Nacht.«
    » Komm aber morgen früh nicht später als zehn vor sieben Uhr runter. Ich muss zeitig raus, um zur alten Frau Germers zu gehen, ihr die Haare machen.«
    » Ist gut.«
    » Dann können wir noch zusammen frühstücken, weißt du?«
    Louis schickte seiner Mutter einen Handkuss über die Sofalehne, den sie lächelnd mit der Hand auffing und in ihrer Faust festhielt. Dann leierte sie: » Hab dich lieb.«
    Offenbar hatte sie die Unterhaltung von heute Nachmittag komplett verdrängt. Als sei nichts gewesen. Als hätten sie heute nicht zum ersten Mal über damals gesprochen, als Isabel verschwand. Sie hätte wenigstens fragen können, ob Leonie wieder aufgetaucht war. Irgendwas Mitfühlendes. Zum Zeichen, dass sie sich wenigstens ein bisschen für sein Leben interessierte. Seine Mutter war so kalt. So abgestorben. So tot.
    Louis stieg die Treppe hinauf in sein Zimmer. Der Schmerz, das musste er endlich einsehen, hatte seine Mutter zu einer egoistischen, erbarmungslosen Frau gemacht, die nur noch an sich und ihr Unglück dachte. Die glaubte, das ihr Unglück ihr das Recht gab, sich so gehen zu lassen.

18 . MICHELLE
    Michelle schlich auf Socken die Treppe hinunter und blieb am Durchgang zum Wohnzimmer stehen, wo ihre Eltern noch immer reglos auf dem Sofa saßen und ihre Handys anstarrten, die nebeneinander auf dem Couchtisch lagen.
    Ihre Stimme war kaum hörbar. » Immer noch nichts?«
    » Nein.« Jens und Sarah sahen kurz auf. » Nein. Nichts, Mäuschen.«
    Michelle nickte. » Kann ich bitte bei Mascha übernachten? Ich drehe sonst durch!« Ihr Blick streifte die beiden Polizisten, die mit Kaffeebechern im Durchgang zur Küche standen und sie aus müden Augen irritiert ansahen.
    Auch Sarah und Jens schauten erstaunt auf. » Du willst jetzt zu Mascha? Mitten in der Nacht?«
    » Bitte! Um ein bisschen zu reden oder so.«
    Die Polizisten zuckten mit den Schultern. » Von uns aus ist

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