Der Atem der Angst (German Edition)
der Polizei nichts gesagt? War sie zu dumm? Sie würde es gleich wissen. Sie musste sich beeilen. Sie trat auf die mit Gras bewachsene Lichtung und stellte den Wasserkasten ab. Dies war also der Ort, an dem sie sterben würde.
Es war kaum möglich, die schwere Stabtaschenlampe mit dem Paketband am Kiefernstamm zu befestigen. Durch den Regen war die Rinde glitschig, die Taschenlampe plumpste in die dichten Farne. Alles entglitt ihr. Es wurde immer später. Sollte sie die Nummer schon anrufen, obwohl sie noch nicht bereit war? Sie starrte auf das leuchtende Display. Hier oben war kaum Empfang. Mit den Zähnen riss sie einen langen Streifen Klebeband ab, der untauglich geworden war. Endlich klebte die Taschenlampe am Baum. Sie warf das Seil mit der Schlinge über den waagerechten Ast. Waagerecht. Das Wort hatte sie in der Schule gelernt. Waagerecht. Senkrecht. In Geometrie. Vierzig Sekunden über die Zeit. Die Rinde reflektierte das bläuliche Licht des Displays. Ihr Mund stand offen. Ihre Zunge war trocken. Die Augen brannten. Mit zittrigen Fingern wählte sie die Nummer, die sie sich auf dem Unterarm notiert hatte. Erst beim dritten Versuch ertönte das Freizeichen. Kurz darauf zeigte sich auf dem Display eine Person in weißem Trainingsanzug und Hasenmaske. Offenbar saß sie in einem Kellerraum auf einem Stuhl. » Du bist zu spät.«
Hinter Michelle knackte es. Da war jemand. Michelle riss sich zusammen und presste mit dem letzten bisschen Atem hervor: » Ich bin gleich fertig.«
Der Hasenkopf nickte.
Eilig platzierte sie den Wasserkasten unter dem waagerechten Ast, dann nahm sie allen Mut zusammen. Mehr als ein Flüstern bekam sie dennoch nicht hin: » Ich will meine Schwester sehen.«
» Bist du fertig?« Der Hase stand von seinem Stuhl auf und kam näher an die Kamera heran. Wieder klang die Stimme seltsam verzerrt, sodass Michelle nicht sagen konnte, ob sich eine Frau oder ein Mann hinter der Maske verbarg. » Hast du alles so gemacht, wie ich es dir gesagt habe?«
» Ja.«
Der leere Wasserkasten stand unter dem dicken Ast, über dem das Seil mit der Schlaufe baumelte. Das lose Ende hatte Michelle um den Stamm gebunden und verknotet.
» Jetzt fixiere das Handy so, dass ich dich sehen kann, wenn du es tust.«
Michelle gehorchte und steckte das Handy in eine Astgabel. Sie beschwor sich, keine Angst zu haben. Nicht zu zögern. Vollkommen davon überzeugt zu sein, dass alles seine Richtigkeit hatte. Wenn das hier ihre große Aufgabe, ihre Prüfung war, dann würde sie die auch bestehen. » Okay. Wo ist meine Schwester?«
Das Bild wurde dunkel.
» Hallo?« Michelle starrte auf das dunkle Display.
Es raschelte.
» Hallo!« Sie klopfte gegen das Handy und lauschte mit angehaltenem Atem. Sie hörte Schritte. Offenbar ging die Stimme in einen anderen Raum. Es dauerte, bis das Display wieder aufleuchtete und die Kamera auf ihre kleine Schwester gerichtet wurde. Sie kauerte im Turnanzug in einem Pappkarton. Michelle heulte auf.
» Nini! Hörst du mich?«
Mit weit aufgerissenen Augen blickte Leonie Michelle an. Ohne Socken. Ohne Pullover. In der Hand eine Flasche mit eklig, hellgrünem Inhalt. Michelle rief und bekam wieder nur ein krächzendes Flüstern hin. » Nini-Schatz, siehst du mich? Ist dir kalt?«
Ihre Schwester reagierte überhaupt nicht, sondern trank Schluck für Schluck den hellgrünen Inhalt dieser Flasche leer.
» Nini.« Ihre Stimme wollte einfach nicht gehorchen. Sie hauchte atemlos. » Nicht trinken! Ich hole dich nach Hause!«
Dann wurde das Bild schlagartig schwarz. Kurz darauf zeigte sich der Hasenmensch. Er kam ganz nah heran und keuchte: » Bist du soweit?«
» Ja.«
» Dann zeig mir, wie du stirbst.«
Michelle stieg, ohnmächtig vor Angst, auf den hochkant gestellten Wasserkasten. Gehorsam legte sie sich die Schlinge um den Hals. Sie sah geradeaus, direkt ins Licht der Taschenlampe. Sie spürte die kalte Nachtluft auf ihrem Gesicht. Hörte hinter sich das Rauschen des Wasserfalls. Über ihr hing der grenzenlose Nachthimmel. Noch war sie hier. Noch war sie ein sechzehnjähriges Mädchen, das in Chucks auf einem Wasserkasten stand. Entschlossen, ihre kleine Schwester zu retten. Noch atmete sie. Noch war sie da. Sie liebte einen Jungen. Und er liebte sie.
Würden sie sich im Himmel wieder sehen?
Der Hasenmensch fragte: » Worauf wartest du noch?«
Michelle blinzelte hinüber zum leuchtenden Display in der Astgabel. » Bring meine Schwester heil nach Haus!« Das waren ihre letzten
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