Der Atem der Angst (German Edition)
schlafen legte. Irgendwie konnte sie Erics Entscheidung verstehen, sie zu verlassen.
Mit einem Seufzer erhob sich Heidi und stieg in den ersten Stock hinauf. Vorsichtig schob sie die angelehnte Tür zu Winnies Zimmer auf. In der Steckdose glomm das Nachtlämpchen. Ihr Sohn schlief in seinem Weltraumpyjama, auf den die Planeten aufgedruckt waren. Heidi legte sich neben ihn, küsste seine Wange und atmete seinen Duft ein. In der Hosentasche vibrierte ihr Handy. Oh, bitte! Sie wollte doch nur für ein paar Augenblicke nichts anderes als eine Mutter sein! Hastig wühlte sie nach dem surrenden Gerät und nahm flüsternd das Gespräch an. » Ja?«
» Ich bin’s. Henner. Schläfst du schon?«
» Nein.« Neben ihr drehte sich Winnie schmatzend auf die andere Seite. Behutsam erhob sich Heidi aus dem Bett und stellte sich ans Fenster. » Gibt’s was Neues?«
» Die Reifenspuren stammen vermutlich von ziemlich alten Reifen. Die Profile sind fast ganz runter. Die Spurweite passt zu einem Pick-up. Vielleicht einer vom Sägewerk.«
Heidi zog sacht den Vorhang zur Seite und sah hinunter auf die regennasse Straße, in deren glitzernder Oberfläche sich der Laternenschein spiegelte. » Okay. Haben wir noch was?«
» Die Blume, die wir aus Leonies Haar gezogen haben, gibt’s in jeder Blumenhandlung. Ist nichts Besonderes. Irgendeine Gewächshausorchidee.«
» Alles klar.« Heidi sah in die andere Richtung die Straße hinunter. » Danke dir. Wie geht’s dir sonst?«
» Ich bin okay. Und du?« Henner klang besorgt.
» Okay. Mach Schluss für heute. Bis morgen.«
Sie legte auf und ließ den Vorhang wieder los. Lautlos verschwand sie aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit ihren matschigen Aerobicschuhen an den Füßen und der Wetterjacke zurück. Entschlossen schlug sie die Bettdecke zurück, schob ihre Unterarme unter Winnies Nacken und Kniekehlen und hob ihn an. Sie trug ihr schlafendes Kind die Treppe hinunter, auf die nächtliche Straße raus. Auf dem Autorücksitz deckte sie ihn mit einer Wolldecke zu. Sie durfte Winnie nicht allein lassen. Aber sie konnte jetzt auch nicht zu Hause bleiben. Sie musste die Bestie finden, die in St. Golden umging– und das, bevor sie wieder zuschlug. Sie musste ins Präsidium, die alten Akten hervorholen. Sie musste wissen, wer zu so etwas Abscheulichem fähig war. Und warum? Bis sie darauf eine Antwort hatte, würde sie keine Ruhe finden. Das Leben gab ihr keine Ruhe. Egal, wohin sie ging. Das Leben rief sie immer wieder zurück, um das Böse aus der Welt zu verbannen. Das war ihr Job.
21 . MAYA
Maya zitterte am ganzen Körper. Ihr war kalt. Obwohl die Morgensonne vom wolkenlosen Himmel knallte und sich in den schwarzen Knopfaugen ihres Teddys spiegelte. Er hockte vor der Höhle zwischen ihren ausgestreckten Beinen und sah zu, wie sie sich mit dem Jagdmesser aus einem länglichen Haselzweig eine Spindel zum Feuermachen schnitzte. Was Maya sonst mit Leichtigkeit gelang, forderte nun ihre letzten Kraftreserven.
» Mein Vater und du, ihr hattet recht. Es ist alles wahr. Es gibt sie, die Widerwärtigen.«
Atemlos erzählte sie Lukas von ihren letzten Stunden im Wald. Wie sie tags zuvor die Grube gefunden hatte, aus der diese dünne Stimme kam, die um Hilfe rief. Wie sie weggerannt war, durch den Wald, bis sie merkte, dass ihre Spuren direkt zur Höhle führen würden. Wie sie sich über Nacht in einer Felswand versteckt hatte, während unter ihr die Suchtrupps mit Spürhunden durch den Wald streiften und schließlich die Polizei kam, mit dem Baulicht.
» Ich weiß, dass du dir Sorgen gemacht hast. Aber ich wollte denen nicht in die Arme laufen.«
Lukas machte irgendwie einen beleidigten Eindruck.
» Ich wollte dich nicht so lange allein lassen, wirklich. Aber besser einen Tag allein als für immer allein. Oder nicht? Da waren echt eine ganze Menge Leute im Wald. Weiß ich denn, wer von denen auch zu den Widerwärtigen gehört? Mit so vielen hätte ich es niemals aufnehmen können.«
Mayas Erklärungen schienen Lukas kein Stück zu interessieren. Aber vielleicht war er auch nur sauer, weil sie ihm nicht geglaubt hatte, dass es dumm gewesen war, in die Stadt zu gehen. Dumm und gefährlich.
» Was mach ich nur jetzt mit meinem Kiefer?«
Die Schmerztabletten waren aufgebraucht. Und von den kleinen rosa Pillen, die Maya oben in den Felsen in einen komaähnlichen Tiefschlaf versetzt hatten, gab’s auch keine mehr. Ein paar Mal hatte sie noch versucht, mit dem Jagdmesser die
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