Der Atem der Apokalypse (German Edition)
Tür.
Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen, konnte nicht einmal atmen, bis schließlich rasselnd Luft aus seiner Lunge entwich. Im Innersten hatte er damit gerechnet, dass Pater Michael tot war – er hatte inständig gehofft, es wäre nicht so, doch seit sie das totenstille Haus betreten hatten, wusste er Bescheid. Weder Pater Michael noch die beiden Steves hätten den Jungen kampflos hergegeben. Doch wenn das Kind – angesichts des Grauens konnte er es nicht mehr Luke nennen –, sich auch gegen sie gewandt hatte, hatten sie keine Chance gehabt. Er hatte gesehen, worin sich Mr Solomon verwandelt hatte; er hatte die Kraft des
Leuchtens
am eigenen Leib gespürt. Die drei Männer, denen er die Bewachung des Jungen anvertraut hatte, konnten nicht wissen, was auf sie zukam.
»Warum?«, fragte er, als er seiner Stimme wieder trauen konnte. »Warum haben sie ihm das angetan? Er hat niemandem etwas getan … warum haben sie ihm nicht einfach den Hals gebrochen, wie den anderen beiden?«
Mr Bright stellte sich neben ihn. Gemeinsam standen sie in dem dunklen Raum und betrachteten die Leiche an der Wand.
»Ich denke, wegen seines Glaubens«, sagt Mr Bright still. »Der Erste will sich von jeglicher Mittäterschaft an allem distanzieren, was wir hier geschaffen haben.« Er legte nachdenklich den Kopf schief. »Er weiß, dass
er
Unmenschlichkeit und Bestrafung sehr zu schätzen weiß.«
»Es tut mir schrecklich leid«, sagte Cass zu dem nackten Mann, der an die Wand genagelt war. Rostige Nägel steckten in seinen Handflächen und Unterarmen. Als Verhöhnung einer Dornenkrone hatte man ihm Bilderhaken in die Stirn gehämmert.
Cass zog behutsam das Abdeckband vom Mund des alten Mannes. Es war kalt. Schon lange hatte kein Atemzug das Plastik mehr gewärmt.
»Fass ihn lieber nicht an«, sagte Mr Bright. »Du hast schon genug Probleme.«
»Ist mir egal. Ist mir egal, was danach aus mir wird«, murmelte Cass. »Wenn mein Neffe in Sicherheit ist, können sie mich haben.« Er hatte es satt, wegzulaufen; er hatte es satt, in Spielen den Bauern zu geben, der nicht mal wusste, dass er mitspielte. Und er konnte es nicht mehr ertragen, dass die Menschen um ihn herum leiden mussten, nur weil sie ihn kannten. Andererseits war niemand mehr übrig, merkte er von Traurigkeit überwältigt. Alle, die er je geliebt hatte, waren tot. Armstrong hatte recht gehabt: Er war ein Fluch für alle anderen.
»Es wird dich nicht trösten«, sagte Mr Bright, »aber wenn ich mir seinen Bauch ansehe, vermute ich, dass dein Freund seinem Glauben nicht abgeschworen hat. Was immer man davon halten mag.«
Der Schnitt verlief von Pater Michaels Brust bis zum Becken und die Eingeweide waren herausgezogen worden, sodass sie auf den Boden schwappten – eine altmodische Ausweidung.
Cass ließ Mr Bright allein, der weiter den gekreuzigten Mann ansah. Sonst würde er sich entweder übergeben oder in Ohnmacht fallen, und beides kam nicht infrage. Stattdessen überließ er dem Zorn die Oberhand über den Schock und taumelte nach unten in die Küche, wo er sich kaltes Wasser ins heiße Gesicht spritzte. Dann ging er in den Garten. Er wollte nicht länger die Luft in diesem Haus atmen.
Cass steckte sich eine Zigarette an und rauchte zwei, drei Züge, um sich zu beruhigen, ehe er Ramsey mit dem Handy anrief. Als er in den ersten Wochen nach der Schießerei ans Bett gebunden war und sich zu Tode gelangweilt hatte, hatte er zum Zeitvertreib Telefonnummern auswendig gelernt – die der wenigen Leute, denen er vertraute: Perry Jordan, Pater Michael, Charles Ramsey. Er hatte sich schon gedacht, dass ihm das eines Tages nützen würde. Aber doch bitte nicht so.
Ein dunkler Schatten glitt am Küchenfenster vorbei, und als das Handy tutete, fand Cass, dass das ein gutes Bild für Mr Bright war. Er war ein dunkler Schatten, gleichzeitig etwas und nichts, etwas, in dessen Gegenwart man unruhig wurde.
»Ramsey?«
Der DI ging so schnell ran, dass es Cass die Sprache verschlug. Sein Herz machte einen Satz. »Wenn Sie diesen Anruf zurückverfolgen, finde ich Sie und bringe Sie um.«
Nun war Ramsey einen Augenblick lang sprachlos. »Cass?«
»Stimmt die Scheiße mit der Suspendierung?«
»Ja! Hask und ich glauben, dass es noch einiges aufzuklären gibt. Dieser Mr Bright …«
»Mit dem bin ich gerade zusammen.« Als Cass sah, dass Mr Bright ihn von der Tür aus beobachtete, drehte er ihm den Rücken zu.
»Was? Mit wem?«, rief Ramsey. »Was zum
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