Der Atem des Jägers
ich keine Hure wäre, hätte ich ihn nie kennengelernt.«
Als erstes kam ihm in den Sinn, sie zu fragen, warum sie eine Hure geworden war. »Ich glaube nicht, daß es so funktioniert«,
sagte er. Sie schüttelte bloß den Kopf, hielt die Augen geschlossen. Er wollte aufstehen und zu ihr gehen und seinen Arm um
ihre Schultern legen.
Er blieb, wo er war. »Das ist psychologisch«, sagte er. »Wir erleben das oft. Die Opfer oder ihre Familienmitglieder machen
sich Vorwürfe, aber man kann nicht für die Handlungen von jemand anders verantwortlich sein.«
|320| Sie reagierte nicht. Er schaute hinunter auf die Pizza auf dem Teller vor sich, schob sie weg und wischte sich die Hände an
einer Papierserviette ab. Er sah sie an. Sie trug Jeans. Sie saß auf dem Sessel und hatte die nackten Füße untergeschlagen.
Ihr langes blondes Haar verdeckte ihr halbes Gesicht. Was konnte er zu ihr sagen? Was könnte jemand zu ihm sagen, wenn es
sein Kind gewesen wäre?
»Ich wollte Ihnen eigentlich etwas anderes erzählen.«
Sie öffnete die Augen. »Ich will keine schlechten Nachrichten hören.«
»Ich glaube nicht, daß es schlechte Nachrichten sind. Ich finde nur, daß Sie das Recht haben, es zu erfahren. Wissen Sie von
dieser Artemis-Geschichte, die in den Zeitungen steht?«
Mit einer plötzlichen Kopfbewegung warf sie ihr Haar zurück und sagte: »Ja. Und ich wünschte, er würde kommen und Carlos umbringen.«
Sie sagte es mit einem Haß, den er verstehen konnte.
»Das ist mein Fall. Der Assegai-Mann. Ich möchte Carlos benutzen, um ihn zu fangen.«
»Wie?«
»Wir wissen, daß er seine Opfer auswählt, wenn die Medien von ihnen berichten. Über ihre Verbrechen. Heute haben wir den Medien
reichlich Informationen über Carlos gegeben. Wie er … Sonia entführt hat. Über seinen Hintergrund als Drogendealer. Wir glauben,
wir können den Assegai-Mann anlocken.«
»Und dann?«
»Das ist ein weiterer Grund, warum wir Carlos so genau im Auge behalten.«
Es dauerte eine Weile, bevor sie antwortete. Er sah auf ihrem Gesicht, wie sie nachdachte, die Augen zusammenkniff, die Lippen
aufeinanderpreßte. »Also geht es gar nicht um Sonia«, sagte sie.
»Es
geht
um sie. Alles deutet darauf hin, daß er uns zu ihr führen wird.« Er gab sich alle Mühe, überzeugend zu klingen, fühlte sich
aber schuldig. Er hatte Sangrenegra gesagt, was sie vorhatten. Heute morgen vor Gericht hatte er Carlos in die |321| Augen geschaut und die Nachricht erneut gesendet: Du bist ein Köder. Er wußte, Carlos würde nirgendwo hingehen, denn Carlos
wußte, daß die Polizei ihn beschattete. Die Chance, daß der Kolumbianer sie irgendwo hinführen würde, war null.
»Ich glaube Ihnen nicht.«
Konnte sie am Ton seiner Stimme hören, daß er log? »Mein schwarzer Kollege hat heute morgen mit der Psychologin gesprochen.
Sie hat gesagt, Leute wie Carlos kehren zu ihren Opfern zurück. Ich gebe Ihnen mein Wort. Das stimmt. Es ist eine Möglichkeit.
Es kann passieren. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß es so kommt, aber es ist möglich.«
Ihr Ausdruck veränderte sich, der Haß löste sich auf, und er sah, daß sie kurz davor stand zu weinen. Er sagte noch einmal:
»Es ist möglich«, aber es half nicht.
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und sagte: »Lassen Sie ihn! Lassen Sie ihn Carlos töten!« Dann hoben sich ihre Schultern.
Er konnte es nicht mehr aushalten. Mitleid und Schuldgefühl zogen ihn zu ihr hin. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich
verstehe«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe auch Kinder«, sagte er und inhalierte ihren Duft, Parfüm und ein klein wenig Schweiß.
Er saß auf der Sessellehne. Er schob seine Hand an ihrem Hals vorbei auf die andere Schulter. Seine Finger tätschelten beruhigend.
Er kam sich vor wie ein Idiot, denn sie reagierte nicht auf seine Berührung. »Ich verstehe«, wiederholte er.
Dann rührte sie sich, und er spürte, wie sich ihre Starre auflöste, und dann drückte sie ihren Kopf an ihn. Mit ihrem Arm
um seine Hüfte weinte sie.
37
Er dachte vieles, während sie sich an ihn lehnte, unter seinen Arm drängte. Zum ersten Mal, seit Anna ihn herausgeworfen hatte,
verspürte er eine gewisse Ruhe. Frieden.
|322| Er schaute sich in der Wohnung um. Das Wohnzimmer und die Küche waren ein großer Raum, der durch einen weißen Tresen aufgeteilt
wurde. Ein Flur führte rechts hinter ihm davon. Zu den Schlafzimmern? Er bemerkte den großen
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