Der Atem des Jägers
altern – groß und schlank und unglaublich
gut aussehend, manche Leute sagten, er sehe aus wie der Star in irgendeiner Fernsehserie, die Griessel allerdings nie gesehen
hatte.
»Gut, danke, Prof. Und Ihnen?«
»Bestens, mein lieber Freund. Ich bin gerade fertig mit der unglückseligen Miss Laurens.«
»Prof, die haben mir die ganze Show übertragen – Davids, Pretorius, alles. Bushy und die anderen haben mir gesagt, Sie glauben,
es wäre ein Assegai gewesen.«
»Das glaube ich nicht. Ich bin ziemlich sicher. Was ist nur anders an Ihnen, Nikita? Die Haare? Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.«
Er ging voraus durch den Flur und öffnete die Schwingtüren zum Obduktionssaal mit einem kräftigen Stoß der Handflächen. »Es
ist lange her, daß wir ein Assegai gesehen haben – es ist nicht mehr länger die Waffe der Wahl. Vor zwanzig Jahren war es
häufiger.«
In der Luft lag der Geruch von Tod, Formalin und billigem Lufterfrischer, die Klimaanlage summte leise. Pagel öffnete den
Reißverschluß eines schwarzen Leichensacks. Laurens’ Überreste lagen dort nackt, wie in einem Kokon. Eine einzelne Stichwunde
befand sich in der Mitte ihres Brustkorbs, zwischen den zwei kleinen Brüsten.
»Was es bei Davids nicht gab«, sagte Pagel und zog ein paar Gummihandschuhe an, »war eine Austrittswunde. Die Einstichwunde
war breit, etwa sechs Zentimeter, aber es gab sonst |207| nichts. Daraus schloß ich auf eine sehr breite Klinge oder zwei Stiche mit einer schmaleren Klinge, was allerdings ausgesprochen
unwahrscheinlich ist. Aber ich habe nicht ›Assegai‹ gedacht. Bei Pretorius haben wir eine Austrittswunde, 2,7 Zentimeter breit,
und eine Eintrittswunde von 6,2. Da hat es geklickt.«
Er drehte Laurens’ Leiche auf die Seite. »Sehen Sie hier, Nikita. Die Austrittswunde ist direkt hier, knapp neben dem Rückgrat.
Ich mußte die Einstichwunde für die chemische Analyse herausschneiden, deswegen können Sie die nicht mehr sehen, aber sie
war noch breiter – 6,7, 6,75.«
Er ließ die Leiche vorsichtig zurück auf den Rücken sinken und bedeckte sie. »Das verrät uns ein paar Dinge, die Sie interessant
finden werden, Nikita. Die Klinge ist lang, ich schätze etwa sechzig Zentimeter. Wir sehen hier viele Stichwunden, die man
mit Küchenmessern bekommt. Sie wissen schon, die Dinger, die man bei
Pick and Pay
kauft, die Klinge ist etwa 25 Zentimeter. Bei diesen Wunden gibt es eindeutig eine Schnittseite und manchmal sogar eine Austrittswunde,
aber die ist nie breiter als ein Zentimeter. Die Einstichwunden sind normalerweise bei drei, selten vier Zentimetern. Hier
haben wir zwei Schnittkanten, etwa wie bei einem Bajonett, bloß breiter und dünner. Deutlich breiter. Ein Bajonett richtet
im Inneren auch mehr Schaden an, dafür ist es entworfen worden, wußten Sie das? Wir haben also eine sechzig Zentimeter lange
Klinge mit einer schmalen Spitze, die in der Breite stetig zunimmt, bis sie schließlich fast sieben Zentimeter erreicht. Können
Sie mir folgen, Nikita?«
»Kein Problem, Prof.«
»Es ist ein klassisches Assegai, nichts anderes paßt auf diese Beschreibung. Nicht einmal ein Schwert. Schwerter sind natürlich
sowieso sehr selten, ich habe vielleicht in meinem ganzen Leben zwei Schwertwunden gesehen. Aber Schwerter verursachen viel
größere Austrittswunden, und der Wundkanal ist viel gleichmäßiger. Aber das ist nicht der einzige Unterschied. Die chemische
Analyse hat ein paar Überraschungen |208| ergeben. Winzige Mengen Asche, Tierfette und einige Komponenten, die wir zuerst nicht identifizieren konnten, wir mußten sie
nachschlagen. Es war offensichtlich ›Cobra‹. Sie wissen doch, das Poliermittel, mit dem die Leute ihre Böden reinigen. Die
Tierfette stammen vom Rind. Die findet man nicht auf Schwertern. Also habe ich nachgelesen, Nikita, denn es ist lange her,
daß wir ein Assegai hatten, man vergißt das. Gehen wir in mein Büro, da sind die Notizen. Irgendwas an ihnen ist anders. Warten
Sie, lassen Sie mich raten …«
Pagel ging zurück in sein Büro.
Griessel schaute an sich herunter. Er war gekleidet wie sonst, er konnte nichts Ungewöhnliches sehen.
»Setzen Sie sich, mein lieber Freund, und lassen Sie mich Ihnen die Geschichte erzählen.«
Er zog einen in schwarzes Leder gebundenen Band vom Regal und blätterte darin.
»Die Asche. Damit polieren sie die Klinge, die Schmiede. Ich vermute, es sind Assegai-Schmiede, denn sie machen nichts
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