Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
von unermesslicher Macht und Kraft und lösen dadurch Bewunderung, Ehrfurcht und Angst zugleich aus.
Der Atlantik ist der klassische Ozean unserer Fantasie, ein Industriegebiet, das Kohle, Eisenerz und Salz liefert, zweckmäßig zu seiner Nutzung ausgestattet, mit Schifffahrtsrouten, Kaianlagen und Fischereiflotten. Er ist ein lebendiger Ozean, über dessen Oberfläche riesige Scharen von Schiffen ziehen, während es in seinen Tiefen von einer unvorstellbar großen Fülle von mysteriösen Geschöpfen wimmelt. Und er ist eben auch eine Entität, die irgendwie unvergänglich, unendlich wirkt. Jahrein, jahraus, Tag und Nacht, Jahrhundert um Jahrhundert, bei Hitze und bei Kälte ist der Ozean immer da, eine ewige Präsenz im kollektiven Bewusstsein jener, die an seinen Ufern leben. Derek Walcott, der mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Lyriker, schildert in seinem berühmten Versepos Omeros , wie der Held Achilles, ein Fischer, am Ende erschöpft einen atlantischen Kiesstrand hinaufstapft. Er hat dem Meer den Rücken zugewandt, doch er weiß, dass es da ist, auch wenn er es nicht sieht, es liegt die ganze Zeit hinter ihm und ist, gewaltig, großartig, ominös, weiterhin das Meer. Der Ozean »besteht« ganz einfach »immer noch weiter«: It is still going on.
Vor dreitausend Jahren führte Homer die seiner dichterischen Vorstellung entsprungene Gestalt des »Oceanus« ein, des Sohnes von Uranus und Gaia, des Gatten von Thetys und Vaters einer Schar von Flussgöttern. Das Wort selbst bezeichnete einen Fluss, der sich um einen gewaltigen Globus zog, von dem die Menschen des Altertums glaubten, dass er sowohl von den elysischen Feldern als auch vom Hades begrenzt sei. Für Homer war der Ozean demnach ein Fluss, einer, dessen Quelle in einer weit entfernten Region, dort, wo die Sonne unterging, lag. Für die Seeleute aus dem Mittelmeergebiet, die die riesige graue, von Stürmen aufgewühlte und wild bewegte Fläche sich jenseits der Säulen des Herkules bei Gibraltar ausbreiten sahen, hatte der »Ozean« etwas ungemein Einschüchterndes, etwas Angsteinflößendes an sich. Er war auch als Großes Außenmeer bekannt und galt als etwas, das man fürchten musste: eine Welt tobenden Wassers, von schrecklichen Ungeheuern wie Gorgonen und Hekatoncheiren bevölkert oder von bizarren, absonderlichen Menschenwesen wie Kimmeriern, Äthiopiern und Pygmäen. Und unablässig in lebhafter, lebendiger Bewegung.
Diese poetische Vorstellung von der unablässigen Aktivität des Meeres ist zugleich vertraut, tröstlich und leicht beunruhigend. Man hat das Gefühl, dass das Meer, was immer es sonst sein mag, grau oder riesig, übellaunig oder kraftvoll, tosend oder ruhig, in dieser Welt eine permanente Präsenz darstellt. Wir imaginieren es als ein unveränderlich bestehendes, lebendes Wesen, pausenlos mit dem nie abzuschließenden Geschäft des Wellenschlagens und des Wartens befasst.
Doch genau besehen ist das nicht so. Auch Ozeane besitzen einen Anfang und ein Ende. Vielleicht nicht in der menschlichen Vorstellung, aber ganz bestimmt in einem physischen Sinn. Ozeane werden geboren, und Ozeane sterben. Und der Atlantik, das einst so gefürchtete Große Außenmeer, der am sorgfältigsten erforschte und erkundete Ozean von allen, war nicht immer da, und er wird auch nicht für alle Ewigkeit dort bleiben, wo er ist, und nicht das, was er ist.
Damit ein Ozean auf einem Planeten entstehen kann, bedarf es zweier Grundvoraussetzungen. Zum einen muss Wasser da sein, zum anderen Land. Die enorme Wassermenge, die heute auf der Erde vorhanden ist, hat es natürlich nicht immer gegeben – doch neuere Forschungen lassen darauf schließen, dass sie ziemlich bald entstand, nachdem die Erde sich vor fast fünf Milliarden Jahren im All aus Planetesimalen zusammengeballt hatte. Untersuchungen von Zirkonkristallen, die man in Westaustralien in der Nähe einer Eisenerzmine gefunden hat, deuten darauf hin, dass schon ein paar hundert Jahre nach der Entstehung unseres Planeten Wasser auf ihm vorhanden war. Dieses muss unvorstellbar heiß gewesen sein und alle möglichen giftigen und zersetzenden gelösten Gase in sich getragen haben. Aber es war eine flüssige Substanz, es schwappte herum, es konnte feste Materie, über die es floss, erodieren – und tat dies auch – und, am wichtigsten, es war unbestreitbar der Urahn, das Urmaterial aller Meere, die es gegenwärtig gibt.
Der Ozean, auf den ich von den von Papageientauchern besiedelten Klippen der
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