Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
aus roh behauenen Steinen führten an einem Ende des Betonstreifens eine Felswand hinauf, und ich stieg sie hoch, wobei ich mir des tiefen, mit tobender Gischt gefüllten Abgrunds neben mir nur allzu sehr bewusst war. Doch ich schaffte es. Oben angelangt, erblickte ich ein paar verstreut liegende Häuser sowie eine Kirche, einen Laden und ein winziges Inn, das ich sofort ansteuerte.
In der Gaststube hing der Geruch von Pfeifenrauch und nasser Pulloverwolle in der Luft. Ein plötzlicher heftiger Windstoß hatte den Morgennebel vertrieben, und die Sonne offenbarte meinem Blick einen langgezogenen steilen Grashang, der sich nach Westen zum höheren Ende der Insel, wie es schien bis in den wolkenlosen Himmel hinein, emporschwang.
Ein von Gras überwachsener Pfad, den gerade ein Trupp von Insulanern langsam hochmarschierte, einer hinter dem anderen, wie eine Kolonne von Ameisen, führte den Hang hinauf. Ich schloss mich ihnen aus Neugier an. Zu meiner großen Verblüffung waren die meisten in farängischer Festtracht gekleidet: Die Männer trugen dunkelblaue und scharlachrote Jacken mit hohen Kragen und Reihen von Silberknöpfen, Kniebundhosen und Schuhe mit silbernen Spangen; die Frauen hatten lange Röcke mit breiten Streifen angelegt, außerdem blaue Wämser, die vorne mit filigranen Kettengebilden geschlossen waren, und fransenbesetzte Umhängetücher. Einige Männer trugen zwar Anoraks und hatten außerdem Kapuzenschals aus Filz dabei, diese blieben jedoch zusammengerollt, und niemand hatte eine Kopfbedeckung auf; der unablässig blasende Wind hätte sie ohnehin mit sich gerissen. Die Kinder, die genauso festlich wie die Eltern gekleidet waren, schrien und kreischten und schlitterten über das feuchte Gras, obwohl die Erwachsenen sie ermahnten, ihre Stiefel nicht schmutzig zu machen und bloß nicht hinzufallen.
Der Anstieg dauerte dreißig Minuten, aber keiner der Insulaner schien ins Schwitzen zu geraten. Sie versammelten sich alle an einer bestimmten Stelle oben auf der Klippe, wo das Gras platt getreten war. Dort ragte ein Gedenkstein auf, ein Basaltkreuz, in das, wie man mir erzählte, die Namen all der Fischer eingemeißelt waren, die in den Fischereigründen um das im Westen gelegene Island ums Leben gekommen waren. Die ganze Schar, es waren insgesamt vielleicht hundert Menschen, nahm neben den zu einer Pyramide aufgetürmten Basaltbrocken, die die höchste Stelle markierten, Aufstellung und wartete.
Nach ein paar Minuten erschien ein weißhaariger, ungefähr sechzig Jahre alter Mann, der von der Anstrengung ein wenig schnaufte, am oberen Ende des Pfades. Er war in ein langes schwarzes Chorhemd mit hoher Halskrause gekleidet, so dass er beinahe aussah, als wäre er den Seiten eines illustrierten mittelalterlichen Volksbuchs entstiegen. Der Mann war ein lutheranischer Pastor aus Tórshavn, der Hauptstadt der Färöer. Er begann, einen Gottesdienst abzuhalten, wobei ihm zwei Küster, die Akkordeon spielten, und ein einheimischer Bursche mit Gitarre assistierten. Zwei hübsche blonde Kinder verteilten einige vor Feuchtigkeit schlaffe Blätter mit Texten und Noten, und mit hohen Stimmen fingen die Dorfbewohner an, altnordische Kirchenlieder zu singen. Der zarte Gesang wurde sofort vom Sturm verweht, ins Meer hinabgeblasen – genauso wie es sein sollte.
Die Insulaner erzählten, dass es sich bei dieser kleinen religiösen Feier um ein absolutes Novum handelte; vorher hatte es so etwas noch nie gegeben, denn bis dahin war immer ein Pastor aus dem tausend Meilen weiter südlich gelegenen Dänemark gekommen, um Gottes Segen für die vor langer Zeit ertrunkenen Seeleute von der Insel zu erflehen. Der heutige Tag würde in die Geschichte eingehen, erklärte man mir, weil der Geistliche ein Färinger war, ein Einheimischer also. Auf eine ganz eigene Weise, behutsam und respektvoll, machte dieser Gedenkgottesdienst mit den im lokalen Idiom vorgetragenen Gebeten deutlich, wie diese abgelegenen Inseln mitten im Ozean sich kontinuierlich der wohlmeinenden Obhut des europäischen Mutterlands entzogen hatten. Die Menschen waren ihren eigenen Weg gegangen, hatten eine eigene Lebensweise ausgebildet, eine »Inselart«, wie einer aus der Gemeinde es formulierte: »Eine atlantische Art und Weise«.
Als der Gottesdienst vorüber war, schlenderte ich hinter der sich nach und nach auflösenden Schar her – und stand plötzlich ohne Vorwarnung und ziemlich erschrocken direkt an der Kante der Steilklippe. Der schüttere
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