Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
größeren Bequemlichkeit willen. Im sechsten Abschnitt, der dem von Erschöpfung und Langeweile dominierten Lebensabschnitt des Pantalons entspricht, könnte ich darüber nachsinnen, wie und warum der Mensch in jüngerer Zeit des großen Meeres überdrüssig geworden ist und angefangen hat, es für selbstverständlich zu nehmen, sich nicht mehr um seine besonderen Bedürfnisse zu kümmern und sorglos mit ihm umzugehen.
Und was den siebten und letzten Abschnitt betrifft – der jener Phase im Leben des Menschen entspricht, an deren Ende dieser, wie es bei Shakespeare heißt, ein Geschöpf sans teeth, sans eyes, sans taste, sans everything ist – so könnte ich mir vorzustellen versuchen, wie dieser so vielfach missachtete und vernachlässigte und deswegen möglicherweise rachsüchtig gestimmte Ozean unter Umständen eines Tages zurückschlagen könnte, indem er wieder zu dem wird, was er immer war, wieder seine ursprüngliche Natur annimmt.
Verlockend, wie das alles klingen mochte, war da aber noch etwas anderes zu berücksichtigen und zu tun. Zuerst musste ich den Rahmen schaffen, das sich über Jahrtausende abspielende Drama der Beziehung zwischen Mensch und Ozean innerhalb des Kontextes von dessen viel längerer physischer Existenz einordnen. Erst wenn ich das bewerkstelligt hätte, könnte ich mit dem Versuch beginnen, die menschlichen Geschichten zu erzählen. Erst dann wäre es mir möglich, etwas über das schon so viele Millionen Jahre währende Leben des Ozeans zu berichten und über die Tausende von Jahren in seiner Lebensmitte, in denen die Männer und Frauen, die die Gemeinschaft an seinen Ufern und auf seinen Inseln bildeten, die Bühne betraten und ihre individuellen und spezifisch »atlantischen« Rollen spielten.
Also: Gehen wir zunächst der Frage nach, wie der Ozean entstand. Wie fing alles an?
Prolog
Die Bühne wird gerichtet
Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen
Durch sieben Akte hin.
E in großes Meer – und der Atlantik ist wirklich ein sehr großes Meer – erweckt den Eindruck von Beständigkeit, von Permanenz. Wenn man irgendwo an seinem Ufer steht und über seine Wogen hinweg zum Horizont blickt, dann kann sich leicht das Gefühl in einem einstellen, dass es immer da gewesen ist. Alle, die das Meer mögen – und es können nur sehr wenige sein, die das nicht tun –, haben einen Lieblingsplatz, von dem aus sie besonders gerne auf es schauen: Für mich sind das lange die Färöerinseln gewesen, hoch oben im Nordatlantik, wo es kalt und feucht und öde ist. Tatsächlich ist dort alles von einer eigenen herben Schönheit.
Achtzehn Inseln, jede davon ein Splitter von schwarzem Basalt, mit vom Sturm zerzaustem Salzgras bestanden und in alarmierender Weise von Osten nach Westen abfallend, bilden diesen im Atlantik gelegenen Außenposten des Königreichs Dänemark. An die vierzigtausend Fischer und Schafzüchter klammern sich an diesen Felsen fest, in größter Abgeschiedenheit und voller Entschlossenheit, wie es schon die Wikinger taten, von denen sie abstammen und von deren Sprache sie noch vieles bewahrt haben. Regen, Wind und Nebel prägen das Leben der Insulaner – wenn auch gelegentlich, im Hochsommer beinahe an jedem Nachmittag, die Nebelschwaden plötzlich davonwirbeln und ein Himmel von einer Klarheit und einem brillanten Blau an ihre Stelle tritt, wie man ihn nur ganz hoch im Norden kennt.
An genau einem solchen Tag entschied ich mich, über eine kabbelige und kapriziöse See zur westlichsten Insel der Gruppe, nach Mykines, zu fahren. Es ist eine bei Künstlern sehr beliebte Insel; sie suchen sie wegen ihrer rauen Einsamkeit und ihres vollkommenen Einklangs mit der sie umgebenden Natur auf. Und der Abstecher hinterließ auch bei mir einen tiefen Eindruck. Bei all meinen Streifzügen im Atlantik bin ich nie an einen Ort gelangt, der mir ein derart intensives Gefühl vermittelte, mich am »Rand der Welt« zu befinden. Es gibt keinen besseren Fleck, um die furchtbare Majestät dieses riesigen Ozeans in sich aufzunehmen und allmählich zu begreifen.
Auf Mykines an Land zu gehen erwies sich als ausgesprochen schwierig. Das Boot ritt auf dem schäumenden Kamm eines Brechers in den winzigen Hafen hinein; der Skipper machte nur gerade so lange fest, dass ich einen Betonkai erklimmen konnte, den Seegras mit einem lebensgefährlich rutschigen Überzug versehen hatte. Stufen
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