Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
sind voll maritimer Motive. Cynewulf, eine schattenhafte Gestalt, von dem man aber weiß, dass er bis ins 10. Jahrhundert hinein lebte, schreibt voller Wissbegierde und Leidenschaft über das Meer, wie zum Beispiel in seinen Gedanken Über die Natur der Sirene :
Merkwürdige Dinge sind in der Tat in der Meereswelt zu schau’n;
Es sagen die Menschen, wie Maiden gemacht seien die Meerjungfrau’n
An Brust und Leib. Doch nicht so im niederen Teil,
Vom Nabel abwärts gleicht nichts dem Menschen,
Denn sie sind Fische und mit Flossen verseh’n.
Diese Wunderwesen hausen in einer gefährlichen Durchfahrt,
Wo wirbelnde Wasser der Sterblichen Schiffe verschlingen.
Zwei Jahrhunderte später traten die Verfasser der nordischen Mythen und der isländischen Sagas auf den Plan. Höchstwahrscheinlich – es sei denn, Missionare hatten Handschriften mitgebracht, oder die Fahrten des heiligen Brendan dienten nicht nur der Verbreitung des christlichen Glaubens, sondern auch der der Literatur – wussten die Isländer nichts von der Dichtung der Kelten und der Sachsen. In jedem Fall schworen sie der lyrischen Form zugunsten von Prosatexten, zumeist Epen von großer Länge und gewichtigem Inhalt, ab. Bei dieser neuen Art von Dichtung handelte es sich in einem gewissen Sinn um Meditationen, wenn auch die äußere Form ganz und gar narrativ war. Es waren Erzählungen von heroischen Taten und Entbehrungen, reich an »Action« und Spannung.
Die beiden Texte, die in höchst denkwürdiger Weise über Isländer berichten, die über das Meer segeln, um ferne Gestade zu erforschen, sind die Grönlandsaga und die Saga von Erik dem Roten . In ihnen wird von der ganzen Kraft und Macht des Atlantiks erzählt, jedoch im Rahmen einer viel umfassenderen, übergeordneten Geschichte – nämlich der vom Ozean als einer Brücke zu fernen Ländern, als einem großartigen Hilfsmittel, um Entdeckungen zu machen. Das Hauptinteresse der Seefahrer aus dem Norden bestand darin, neue Territorien ausfindig zu machen, sie zu erkunden und zu kolonisieren. Das zeigt ein Abschnitt vom Beginn der Grönlandsaga :
»[…] sie stachen in See, sobald alles bereit war, und segelten drei Tage lang, bis das Land am Horizont versank und nicht mehr zu sehen war. Dann ließ der günstige Wind nach, und Nebel kam auf, und viele Tage lang hatten sie keine Vorstellung davon, welchen Kurs sie liefen. Dann sahen sie wieder die Sonne und konnten ihre Position bestimmen: Sie setzten das Segel, und nach einer Fahrt von einem Tag sichteten sie eine Küste. Sie sprachen untereinander darüber, was für ein Land das wohl sein könne. Bjarni sagte, er meine, das könne nicht Grönland sein […], ›denn es heißt, es gibt große Gletscher auf Grönland‹.
Sie näherten sich dem Lande schnell und sahen, dass es flach und bewaldet war. Dann flaute der Wind ab, und die Mannen sagten alle, es sei ratsam, an der Stelle anzulegen, doch Bjarni weigerte sich […] ›denn dieses Land scheint es mir nicht wert zu sein‹.«
Sie waren mit ziemlicher Sicherheit auf die Küste von Labrador gestoßen. Unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Besiedlung war Bjarnis barsch klingendes Urteil also sicherlich klug und zutreffend.
3. Monster und Malströme
M it dem Aufkommen der Sagas und der Geschichten der Nordmänner – deren unvorstellbar komplexe Mythologie heute noch in bestimmten Kreisen äußerst populär ist – fand eine Abkehr vom lediglich geschriebenen Wort statt: Bildliche Darstellungen wurden immer beliebter – skulptierte, gestochene, gemalte, gezeichnete –, doch sind nur sehr wenige von ihnen erhalten. Bei den meisten uns bekannten Illustrationen zu Texten dieser Art – durch die wir mit dem Aussehen Odins und Thors und der Walküren und anderer Gestalten aus diesem riesigen Pantheon vertraut sind – handelt es sich um Nachempfindungen durch Künstler des 19. Jahrhunderts, die plötzlich von den durch eine kleine Schar von Skandinavisten im viktorianischen England verbreiteten Geschichten mitgerissen wurden. Zeitgenössische Abbildungen sind nur schemenhaft erhalten – solche von Schiffen zum Beispiel, wie dem Riesenboot Skidbladnir oder Naglfar, einem Fahrzeug, das einzig und allein aus den Finger- und Zehennägeln der Verstorbenen besteht. Es gibt auch Darstellungen auf Tapisserien. Der mittelalterliche schwedische Wandbehang, der als Överhogdal-Teppich bekannt ist und zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in der Sakristei einer Kirche entdeckt wurde, zeigt eine
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