Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Schneidunterlagen verwendet wurden. Doch er hat alles überstanden, und heute gilt das Exeter Book als ungemein wichtiges literarisches Zeugnis, da es ungefähr ein Sechstel der angelsächsischen dichterischen Texte enthält, die überhaupt überliefert sind. Man nimmt an, dass ein einziger Kopist irgendwann im 10. Jahrhundert alle diese Texte niederschrieb, und zwar mit brauner Tinte auf Pergament, wobei er seinen Gänsekiel mit ruhiger und sicherer Mönchshand führte. Es gibt kaum Illuminationen oder Verzierungen in dem Band, nur einige kleine Zeichnungen an einer Handvoll Seitenränder. Er stellt ein unschätzbar wertvolles Kunstwerk dar; nur eine der anderen erhaltenen angelsächsischen Textsammlungen übertrifft ihn an Berühmtheit, der sogenannte Nowell Codex, der das großartige Heldenepos Beowulf enthält.
Doch Beowulf handelt vorwiegend von Kämpfen und Bestattungen, und das Geschehen spielt fast ausschließlich an Land, irgendwo in Dänemark und dem südlichen Skandinavien. Im Exeter Book hingegen ist ein viel kürzerer Text, eine Elegie mit dem Titel »The Seafarer« enthalten, dessen Schauplatz topografisch weniger eingegrenzt ist, denn zumindest in seiner ersten Hälfte dominiert eine längere und traurige Meditation über die Mühen, die das Meer dem Menschen bereitet. Es ist in der Tat ein Klagelied über den Atlantik, vorgetragen von einem »Ich«, einem Mann, dessen Name aber unbekannt bleibt. Er hat Schweres durchgemacht bei dem Versuch, seinen Lebensunterhalt auf dem Wasser dieses Ozeans zu verdienen, sehnt sich aber, wenn er getrennt von ihm ist, mehr nach dem Dasein auf seinen Wogen, als er jemals für möglich gehalten hat.
Der Text beginnt mit einer Klage, die wohl alle erschöpften Seeleute nachempfinden können:
[Hört], wie ich von Sorgen gequält,
Auf eiskalter See,
Den Winter überstand,
Auf den Pfaden des Exils,
Meiner Gefährten beraubt,
Behangen mit Eiszapfen,
Als Hagel in Schauern flog.
Dort hörte ich nichts
Außer dem Brüllen der See,
Der eisigen Wellen.
Doch dann schlägt, obwohl an Land der Sommer Einzug hält, die Stimmung des Seefahrers um; er wird von einer Sehnsucht erfüllt, die allen alten Fahrensleuten ebenfalls bekannt sein dürfte:
Die Haine beginnen zu blühen.
Die Siedlungen werden schön,
Die Felder sind schön anzuschauen,
Die Welt scheint neu zu sein:
Alles dies drängt den Lebhaften,
Es drängt zum Reisen den,
Der weit zu reisen gedenkt,
Auf den Pfaden der See.
Hat unser anonymer Melancholiker im Atlantik etwas gesehen, das man lieben muss? Oder ist er für ihn nicht mehr als eine Möglichkeit, sich davonzumachen? Ganze Heerscharen von Übersetzern und Interpreten haben sich schon über die verborgene Bedeutung des Textes den Kopf zerbrochen. Einige sind zu dem Schluss gekommen, dass in ihm eine Fahrt über das Meer als ein »notwendiges Übel« dargestellt wird, der Ozean als ein Hindernis, das man überwinden muss. Andere, romantischer Veranlagte meinen, es werde unterschwellig zum Ausdruck gebracht, dass die Härten, die er durchlitten hat, den Seefahrer irgendwie über das gewöhnliche an Land verharrende Volk erheben, ihn zu einem höheren Wesen machen, zu einem Mann, der Grund hat, sich der von ihm überstandenen Gefahren zu brüsten.
Doch welches auch immer die Gedanken des »Ich« sind – sie bleiben letzten Endes geheimnisvoll –, das Poem »The Seafarer« begründete eine literarische Tradition oder Mode, während es zugleich eine Realität bestätigte. Auf einer Ebene ist es eine Allegorie – wie in vielen späteren literarischen Texten wird in ihm das Leben als eine Reise aufgefasst. Auf einer eher »nationalistischen« Ebene scheint es jedoch davon zu zeugen, dass die damaligen Bewohner der Britischen Inseln begriffen hatten, dass sie an einem Ort zu Hause waren, der unverrückbar inmitten des Ozeans lag, vom Meer, Meeresarmen und Meeresstraßen umgeben. Der Text gibt zu erkennen, eindeutig und unmissverständlich, dass die sich ausbildende Identität der »Engländer« die eines Volks von Insulanern war, eines Volks, das sicher sein konnte, seinen Lebensunterhalt aus diesem Saum aus tiefen Gewässern gewinnen zu können, zugleich aber auch dazu gezwungen war, sein Leben auf diese Weise zu fristen.
Caedmon und Cynewulf, zwei der größten Dichter in altenglischer Sprache, lebten und wirkten vermutlich beide in Klöstern, die an diesem Saum lagen – Caedmon in Whitby, Cynewulf wahrscheinlich in Lindisfarne –, und ihre Werke
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