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Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Der Atlantik - Biographie eines Ozeans

Titel: Der Atlantik - Biographie eines Ozeans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Theorie stützt, die ansonsten recht radikal erscheinen könnte – dass er nämlich zum Schreiben von Der Sturm durch einen wirklichen Schiffbruch angeregt wurde, der sich 1609 ereignete, und zwar nicht etwa im Mittelmeer, sondern mitten im Westatlantik.
    Es scheint sogar im Text selbst einen indirekten Hinweis auf dieses Ereignis zu geben, wenn auch nur in Gestalt einer beiläufigen Bemerkung: Es ist nämlich von »the still-vex’d Bermoothes« (»den stürmischen Bermudas«) die Rede, was zeigt, dass Shakespeare etwas über diese Inseln oder zumindest von ihrer Existenz gewusst haben muss.
    Die dramatischen Umstände des Schiffbruchs waren zu Shakespeares Zeit in London wohlbekannt. Betroffen war ein Schiff, die Sea Venture , die in London von der Virginia Company gechartert worden war und im Juni des Jahres 1609 von den Ladekais im Hafen von Plymouth abgelegt hatte, um den Ozean zu überqueren. Ihr Kapitän war ein Abenteurer und Freibeuter aus Dorset, ein gewisser Sir George Somers. Sein Auftrag bestand darin, die sechshundert oder mehr Kolonisten, die sich ein Jahr zuvor in der neu gegründeten britischen Siedlung King James’s Town in der Nähe des Potomac River niedergelassen hatten, mit frischen Vorräten zu versorgen.
    Ein grausames Fatum verhinderte jedoch, dass Somers seine Mission erfüllen konnte. Sein zerbrechliches Schiff geriet in einen der wilden Hurrikans, wie sie in der Sommerzeit in der Region häufig auftreten. Das kleine Fahrzeug wurde auf die Riffe vor einer kaum bekannten Inselgruppe geschleudert. Es kam jedoch niemand zu Tode, und die Besatzung sah ein besonders spektakuläres Elmsfeuer, das Masten und Rahen einhüllte, als gutes Vorzeichen an. Die Sea Venture war ein Totalverlust; sie war weit auf den Strand hinaufgeworfen worden, lag aber in aufrechter und sicherer Position zwischen zwei Felsen eingeklemmt, und zwar am nordwestlichen Ende jener Kette von Inseln, die heute als die Bermudas bekannt sind.
    Die Nachrichten von diesem Schiffbruch erreichten nach einiger Zeit London, und man diskutierte in allen Gastwirtschaften über die Ereignisse. Man kann davon ausgehen, dass auch Shakespeare vom Schicksal der Sea Venture erfuhr. Die Geschichte war reich an dramatischen Elementen, und die schaurigen Erzählungen von den merkwürdigen auf Rahen und Spieren tanzenden Flammen, die man unmittelbar vor dem Aufprall des Schiffes auf dem Strand gesehen hatte, müssen den Dichter, so meinen Shakespeare-Forscher, zur Erfindung des Luftgeistes Ariel angeregt haben.
    Die Geschichte war aber mit dem eigentlichen Schiffbruch bei Weitem noch nicht zu Ende. Unter den Überlebenden befanden sich Adlige, auch Damen von höherem Stand, doch ungeachtet ihres sozialen Status wurden sie alle von Somers gezwungen, unter der Anleitung der Schiffszimmerer aus dem Holz der auf der Insel in Hülle und Fülle wachsenden Zedern zwei Schiffe als Ersatz für die havarierte Sea Venture zu bauen. Auf diesen beiden Schiffen, der Patience und der Deliverance , setzte die ganze Gesellschaft ein Jahr später ihre Reise fort, nur um, am Ziel angelangt, festzustellen, dass die Siedlung Jamestown nahezu entvölkert war und die sechzig noch verbliebenen Kolonisten dem Hungertod nahe waren. Es dauerte einige Zeit, bis ihre Retter sie wieder auf die Beine gebracht hatten. Danach kehrte Somers nach Bermuda zurück, eine Insel, die ihm gut gefiel, so dass man es als grausame Ironie ansehen kann, dass er dort kurz nach seinem Eintreffen starb. Sein Leichnam wurde nach Lyme Regis zurückgebracht, das Dorf in Dorset, in dem er auf die Welt gekommen war. Doch sein Herz ruht bis zum heutigen Tag auf Bermuda, der Insel, die zu einer der frühesten Besitzungen Großbritanniens im Atlantik werden sollte.
    Sie ist immer noch eine britische Kolonie. Da sich 2009 die unbeabsichtigte Landung von Somers zum vierhundertsten Mal jährte und da Shakespeare vermutlich Elemente der Geschichte vom Schiffbruch seinem letzten Theaterstück zugrunde legte, hätte man ihren Geburtstag wohl kaum auf eine angemessenere Weise begehen können als durch eine Inszenierung von Der Sturm .
    Das Stück wurde in der Hamilton Town Hall auf die Bühne gebracht, einem schachtelartigen Gebäude aus Kalkstein. Alle Honoratioren der Insel waren zugegen, einschließlich des britischen Gouverneurs, der in der königlichen Loge Platz genommen hatte. Es würde nicht ganz der Wahrheit entsprechen, wenn man behauptete, dass es eine denkwürdige Aufführung war, auch wenn

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