Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Wildheit –, wenn die Menschen sich nicht in geziemender Weise erkenntlich gezeigt hatten.
Als der Atlantik und das Leben in ihm noch weitgehend unerforscht waren, besiedelten viele Seeleute ihn in ihrer Fantasie mit furchteinflößenden Monsterwesen verschiedenster Art. Sie waren Ausdruck der Angst, die selbst erfahrene Seefahrer angesichts dieser riesigen, ja tatsächlich zahllose Gefahren bergenden Wasserfläche empfanden. Auf diesem Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert ist eine ganze Menagerie von Seeungeheuern dargestellt.
Die Maya, die weiter nördlich und auf der zum Atlantik hin gelegenen Seite des Kontinents zu Hause waren, hatten vielleicht keine so enge spirituelle Beziehung zum Ozean. Es gibt sehr wenige Kunstwerke dieses Volks, die das Meer oder etwas mit ihm in Verbindung Stehendes zum Gegenstand haben, auch wenn die bekannteste ihrer Farben, das »Maya-Blau«, sich wohl in idealer Weise für solche Malereien geeignet hätte. Sie standen jedoch in kommerzieller Beziehung zum Ozean; mit großen Lastkanus transportierten sie Menschen oder Waren von Halbinsel zu Halbinsel, von Eiland zu Eiland. Die größte Seestadt der Maya, Tulum, an der Spitze der Halbinsel Yukatan, war eine großartige Anlage – doch haftet ihren Bauten und Wandgemälden nur wenig spezifisch Maritimes an. Die dort entdeckten Embleme sollen eher die Kraft des Windes oder die Schönheit des Sonnenaufgangs wiedergeben. Falls Tulum mehr als ein Hafen für die weit im Landesinneren liegende Stadt Coba war, sondern man mit ihrem Bau in irgendeiner Weise dem Meer Hommage erweisen wollte, dann geschah das auf eine zurückhaltendere, diskretere Weise als üblich.
Auch im Schöpfungsmythos der Maya, wie er durch ihre Literatur und Kunst überliefert ist, spielt das Meer kaum eine Rolle. Berge stiegen irgendwie aus ihm auf, und im auf deren Hängen wuchernden Dschungel wurden dann hölzerne Menschen erschaffen, aus denen im Lauf der Zeit solche aus Fleisch und Blut hervorgingen. Doch das Meer ist bei ihnen nicht fons et origo , ihm wohnt wenig von der tröstenden Kraft inne, die es in den Legenden der Inka hat; es ist weniger große Nahrungsquelle als etwas, das zu Profit und Prosperität verhelfen kann.
Im atlantischen Afrika jedoch ist noch heute viel von jener Verehrung des Ozeans lebendig, die auch die Inka an den Tag legten. Weibliche Wassergeister, abwechselnd gütig-mütterlich und erotisch-verführerisch, spielen in Stammeskulturen an der Küste unterhalb der Sahara eine wichtige Rolle – vor allem bei den Yoruba Nigerias und in den diversen Voodookulten in Benin und Ghana wie auch in Liberia, Gabun und auf der Insel Fernando Póo. Wata-mama , heute auch häufig Mammywater genannt, ist seit Jahrhunderten eine populäre Figur in der Volkskunst Westafrikas. Seit Beginn der Sklavenzeit ist sie auch immer wieder in der Kunst von Mitgliedern der afrikanischen Diaspora auf der Westseite des Ozeans, besonders in Brasilien, aufgetaucht.
Wata-mama wird für gewöhnlich als ziemlich hellhäutig, blond und mit einer ganzen Schmuckkollektion behängt dargestellt. Ihre Gestalt ist die einer Meerjungfrau, und zwischen ihre für gewöhnlich vollen Brüste schmiegt sich immer eine dicke Pythonschlange. Anthropologen glauben, dass diese Geistergestalt auf das große Meeressäugetier, die westafrikanische Seekuh, zurückgeht.
Männer, die gewisse Neigungen an den Tag legen, behaupten gerne, dass der Geist von Wata-mama promiskuitiven Großstadtmädchen, vulgo: Dirnen, innewohne, und sie rechtfertigen Bordellbesuche vor ihren Ehegattinnen damit, dass es sich dabei letztlich um sakramentale Akte handle. Wenn auch ihr Glaube an Wassergeister lebendig bleibt, sind wohl nur wenige afrikanische Ehefrauen für dieses Argument aufgeschlossen.
4. Eine sicherer zu befahrende See
D ie Überquerungen des Atlantiks im 15. Jahrhundert fielen mit der ruhelosen intellektuellen und kommerziellen Betriebsamkeit der Renaissance zusammen – wie einige glauben, wurden sie auch teilweise durch diese ausgelöst. Es war eine Periode, in der, was die visuelle Kunst betraf, alle möglichen neuen Konzepte entwickelt wurden. Man beschäftigte sich vor allem mit der Perspektive, führte jedoch auch einen wissenschaftlichen Realismus in die Kunst ein und verlangte danach, die neuerdings gewonnenen Kenntnisse über die Welt der Natur zu dokumentieren und festzuhalten. Diese neue Strömung in der Kunst hatte auch eine nachhaltige Auswirkung auf die Wahrnehmung der See, auf
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