Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
knorr der Wikinger, während auf dem wesentlich bekannteren Wandteppich von Bayeux in Nordfrankreich die Invasionsflotte Wilhelm des Eroberers zu sehen ist, wie sie über eine mit fantastischen Kreaturen bevölkerte See gen England segelt.
Es gibt auch viele Darstellungen von Seeungeheuern – die erschreckend große Midgardschlange, die Jörmungandr , ist eines von ihnen. Es existieren aber auch Bilder von Gefahren, wie sie tatsächlich, »in echt«, jederzeit im Meer lauerten, von Fontänen und Strudeln, von denen auch in über die ganze nördliche Hälfte des Ozeans, von Cape Farewell auf Grönland bis zur skandinavischen Küste zwischen Nordkap und Skagerrak, verbreiteten Legenden und Mythen die Rede war. So künden nicht nur Geschichten, sondern auch Bilder vom maelstrom an der Südspitze der Lofoten zum Beispiel oder von dem gewaltigen wilden Wasserstrudel bei Corryvreckan, jenem angsteinflößenden Phänomen, das auch als old hag (alte Vettel) bekannt ist und das sich bis heute, immer wenn Flut ist, in der engen Passage zwischen den westschottischen Inseln Scarba und Jura donnernd und brüllend bemerkbar macht. Es gab roh ausgeführte Abbildungen oder lebhafte, detaillierte Darstellungen von vielen anderen maritimen Gefahren und Tücken, die jeden, der vorhatte, sich auf den Atlantik hinauszubegeben, bis weit ins 15. Jahrhundert hinein in Angst und Schrecken versetzt haben müssen.
Die Carta Marina , die erste Karte, auf der die Länder und Regionen Europas im Einzelnen gezeigt und benannt werden, wurde im 16. Jahrhundert in Rom von dem schwedischen Geistlichen Olaus Magnus gezeichnet; sie ist berühmt für ihre an ein großes kreisrundes Auge erinnernde Darstellung des schon genannten maelstrom bei den Lofoten. Sie schließt auch eine Beschreibung eines im Atlantik heimischen Tieres ein, und dieser Text ist auch in einer modernen Übersetzung von einer ganz eigenen Poesie erfüllt:
»Jene, die an der norwegischen Küste entlang nach Norden segeln, um Handel zu treiben oder zu fischen, erzählen alle die unerhörte Geschichte von einer Schlange von beängstigender Größe, 200 Fuß lang und 20 breit, welche in Riffen und Höhlen außerhalb Bergens haust. In hellen Sommernächten verlässt diese Schlange ihre Höhlen, um Kälber, Lämmer und Schweine zu verschlingen, oder sie begibt sich aufs Meer hinaus, um Quallen, Krabben oder ähnliches Meeresgetier zu fressen. Sie besitzt ellenlange Haare, die von ihrem Hals herunterhängen, scharfkantige schwarze Schuppen und flammend rote Augen. Sie greift Schiffe an, fängt sich Menschen und verschluckt sie, und richtet sich dabei wie eine Säule im Wasser auf.«
Bis zur ersten Atlantiküberquerung im 16. Jahrhundert waren die meisten bildlichen Darstellungen des Ozeans mit Zeichnungen von schrecklichen Meeresungeheuern wie dieser Schlange, von Drachen und monströsen Fischen geradezu gespickt. So findet man zum Beispiel auch an den Rändern von Seekarten Kartuschen, die Abbildungen von solchen Ungetümen einschließen. Sogar im relativ fortschrittlichen 17. Jahrhundert wurden noch Stiche von gigantischen Fischen und Walen veröffentlicht, die Schiffen mit ihren Körpern den Weg versperrten. St. Brendan zum Beispiel wird als auf dem Rücken eines Wals die Messe zelebrierend gezeigt. Auf diesem Stich in einem 1621 veröffentlichten Buch grinst das riesige Geschöpf, eine erschreckende Menge an Zähnen entblößend, boshaft, während es zwei Wasserfontänen in die Luft spritzt; doch der Priester steht heiter und gelassen auf seinem Buckel; vor sich hat er einen Altar, auf dem Korporale, Kelch und Patene fein säuberlich arrangiert sind, so wie er es aus Clonfert kennt, und stoisch intoniert er die liturgischen Formeln.
In Darstellungen des Ozeans, die auf dessen westlicher Seite entstanden, stachen jedoch das Monströse und das Erschreckende nicht derart hervor. Werke aus präkolumbianischer Zeit, die das Meer zeigen, künden von größerer Akzeptanz der Launen des Ozeans, von größerem Verständnis für seine Unbeständigkeit, für den Wechsel von Ruhe und Sturm. Die Inkas – die allerdings kein atlantisches Volk waren – dankten Mamacocha , der Meeresgöttin. Den an der Küste des Pazifiks Lebenden galt sie als ein übernatürliches Wesen, das einen in seine schützende Umarmung nahm, mit Fischen und Walen versorgte, welche einen am Leben erhielten, und das generell Güte ausstrahlte, die nur dann in ihr Gegenteil umschlug – manchmal auch mit todbringender
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