Der Aufbewarier (German Edition)
Minuten kommen welche heraus.«
Sie hatte es kaum ausgesprochen, als Applaus aufbrandete. Vier Männer verließen nacheinander das Haus und sahen sich irritiert auf der Straße um. Ihre Frauen und Mütter lösten sich aus der Menge und rannten auf sie zu. Sie nahmen sie in den Arm, einer der Männer hob seine zierliche Freundin hoch und wirbelte sie herum. Die Frauen jubelten wie bei einem Fußballspiel.
»Siehst du!«, schrie Carla gegen den Lärm an.
»Sie werden auch Kurt freilassen. Ich weiß das! Es muss einfach so sein. Und wenn der dann draußen ist, Axel ...«
Sie schluckte den Rest des Satzes herunter. Hier war nicht der Ort, und jetzt war nicht der Zeitpunkt, ihn um Hilfe zu bitten.
Daut spürte, dass Carla etwas auf dem Herzen hatte. Er legte ihr die Hand auf den Arm und nickte ihr stumm zu. Er fühlte eine große Übereinstimmung mit der jungen Frau.
»Mach’s gut, Carla. Und pass auf dich auf. Und vor allem: keine riskanten Dinge. Bleib einfach hier stehen und warte.«
»Ist gut, Axel.«
Daut drehte sich um und ging in Richtung Neue Friedrichstraße.
»Danke, dass du gekommen bist«, rief Carla ihm nach. Daut hob die Hand und winkte.
Am Ende der Rosenstraße ging er direkt zum Bahnhof Börse. Ihm war ein Verdacht gekommen, eher war es eine Idee. Er musste sie überprüfen. Jetzt sofort.
Siebenunddreißig
Es war bereits dunkel in der Rosenstraße. Aus den Häusern kam nur wenig Licht, die meisten Menschen hatten längst die Verdunkelungsrollos heruntergezogen aus Angst, es in der Aufregung bei einem Alarm zu vergessen. Carla harrte noch immer an ihrem Platz nahe der Litfaßsäule aus. Es standen vierzig, höchstens fünfzig Frauen auf dem Bürgersteig. Die euphorische Stimmung des Nachmittags war einer gedrückten Spannung gewichen. Als wäre mit dem Tageslicht auch die Hoffnung geschwunden. Niemand wusste, ob in der Nacht überhaupt Inhaftierte freigelassen würden. Womöglich standen sie hier völlig umsonst in der Kälte. Schon wegen der Gefahr eines Luftangriffs wäre es vernünftiger, nach Hause zu gehen. Natürlich konnten sie in den nächsten Bunker rennen oder in der U-Bahn Schutz suchen. Besser aber war es, von der eigenen Wohnung in den zugewiesenen Luftschutzraum zu flüchten, dann hatte man wenigsten den Koffer mit den wichtigsten Habseligkeiten dabei, der in allen deutschen Wohnungen stets bereitstand.
Seit einer halben Stunde hatte niemand mehr das Sammellager verlassen. Carla starrte den Eingang an, als könne sie mit der Kraft ihrer Gedanken etwas bewirken. Und tatsächlich.
Die Tür wurde von innen aufgerissen, ein schwacher Lichtstrahl fiel auf die Straße. In seinem Kegel stolperte ein Mann ins Freie wie ein Artist im Zirkus, der vom Verfolgungsscheinwerfer ins Licht gesetzt wird. Beinahe fiel er zu Boden, aber der wachhabende SS-Mann fing ihn auf. Unbeholfen klopfte sich der Mann den Dreck vom Mantel.
»Kurt?«, rief Carla fragend.
Der Mann hob den Kopf. Ja, es war Kurt. In seinem Gesicht sah sie die schwarz glänzende Spur eingetrockneten Blutes. Sie rannte über die Straße auf ihn zu und umarmte ihn. Er stöhnte, als sie den Arm um ihn schlang. Langsam gingen sie die Straße hinunter, begleitet vom leisen Applaus der anderen Frauen.
»Macht es gut, ihr beiden«, rief eine.
»Viel Glück«, sagte eine andere.
Carla schaute sich ihren Mann genauer an.
»Was haben sie nur mit dir gemacht, Liebster?«
Kurt konnte kaum Luft holen. Er wollte sprechen, war aber so kurzatmig, dass er keinen Satz vollenden konnte, sondern immer wieder abbrechen musste.
»Pssst«, machte Carla. »Du musst nicht reden. Sag mir nur, wo du verletzt bist.«
»Vermutlich ... Rippen ... gebrochen. Kann kaum atmen.«
Carla blieb stehen, stützte ihren Mann und überlegte.
»Ein paar Hundert Meter nur, dann sind wir in Sicherheit. Schaffst du das?«
Kurt wusste nicht, was seine Frau vorhatte, aber ihm fehlte die Kraft, etwas zu sagen. Ihm war egal, wohin sie ihn brachte. Nur weg von diesem Ort. Er nickte schwach. Carla umfasste ihn vorsichtig.
»Leg deinen Arm um mich. Stütz dich fest auf, mein Schatz. Ich sehe nicht so aus, aber du weißt, dass ich etwas aushalte.«
Sie gingen im Schneckentempo am Bahnhof Börse vorbei über den Hackeschen Markt. Immer wieder mussten sie eine Pause einlegen, weil Kurt nach Luft rang. So brauchten sie fast eine halbe Stunde, ehe sie am Eingang zur Bürstenmacherei von Otto Weidt standen. Unter normalen Umständen hätte Kurt protestiert, hätte
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