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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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sagt er vom aufrechten Gang, dass es «ihn noch nicht gibt, noch nicht recht gibt. Nämlich in dem übertragenen, hochhaltenden Sinn, der einmal naturrechtlich gemeint war.» (1968: 453) Das ist unmissverständlich: Nur in dem «übertragenen» Sinne, den Bloch meint, gibt es den aufrechten Gang noch nicht oder zumindest «noch nicht recht». – Ob demgegenüber die Autoren der klassischen Tradition auf dieselbe Weise zwischen wörtlicher und metaphorischer Bedeutung ihrer Rede vom aufrechten Gang unterschieden haben, ist fraglich. Wir haben oben gesehen, dass Bernhard von Clairvaux und Thomas von Aquin das ‹rectus› aus Koh 7,30 gleichermaßen auf die körperliche Struktur des Menschen beziehen, wie auf seine inneren Eigenschaften; dass wörtlicher und metaphorischer Gebrauch übergangslos ineinanderfließen. Erinnern wir uns beispielsweise an die folgende Passage aus Bernhards Predigten über das Hohe Lied: «Gott hat dem Menschen jedoch auch die aufrechte Gestalt des Leibes vielleicht deshalb gegeben, damit die leibliche Geradheit der äußeren und wertloseren Gestalt jenen inneren Menschen, der nach Gottes Bild geschaffen ist, daran erinnere, die geistige Geradheit zu bewahren, und damit das stattliche Aussehen des Lehms die Entstellung der Seele besonders auffällig mache. Gibt es denn etwas Unziemlicheres, als in einem aufrechten Leib eine krumme Seele zu haben? Verkehrt und häßlich ist es, wenn das Gefäß aus Lehm, der aus Erde geschaffene Leib, Augen hat, die nach oben gerichtet sind, die frei zum Himmel aufblicken und sich am Anblick der Himmelslichter erfreuen, während dagegen das geistige Geschöpf, das Geschöpf des Himmels, seine Augen, das heißt die inneren Sinne und Empfindungen, abwärts zur Erde lenkt, wenn er sich wie eines von den Schweinen im Schmutz wälzt und den Kot liebt.» (SC 24,II,6) Eine klare Grenzziehung zwischen den verschiedenen Gebrauchs- und Bedeutungsarten finden wir hier offenbar nicht. Die Passage beginnt mit der «leiblichen Geradheit» und geht von ihr umstandslos zur «geistigen Geradheit» über; sie kontrastiert den «aufrechten Leib» mit der «krummen Seele», als ob es sich um einen poetischen Text handelte, in dem es auf die Verschiedenheit der Bedeutungsarten nicht ankommt. Dabei entsteht beim Leser der Verdacht, dass diese Nichtunterscheidung weder dem Zufall noch der Nachlässigkeit geschuldet ist.
    Dieser Verdacht ist berechtigt. Die scharfe Unterscheidung zwischen wörtlichem und metaphorischem Sprachgebrauch hat ihre Basis in metaphysischen Voraussetzungen, die Bernhard ganz fern lagen. Für ihn wird durch das planvolle Schöpfungshandeln Gottes ein Realzusammenhang zwischen der aufrechten Gestalt des Menschen und seiner inneren geistlichen Bestimmung etabliert. Wenn Gott dem Menschen die aufrechte Gestalt zu dem genannten Zweck «gegeben» hat, dann ist sie kein bloß symbolisches, sondern ein natürliches Zeichen. Nicht wir sind es, die den aufrechten Gang als Zeichen nehmen ; er ist vielmehr von Gott als Zeichen gegeben. Zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten besteht eine nicht nur konventionelle, sondern metaphysische Beziehung. Mit der Rede vom aufrechten Gang wird daher ein realer Zusammenhang zwischen dem äußeren und dem inneren Menschen angesprochen, kein bloß metaphorischer. – Es liegt auf der Hand, dass diese Diagnose nicht nur auf Bernhard zutrifft, sondern auf die Vertreter eines kosmologischen Denkens allgemein. Für sie ist die Ordnung der Welt das Produkt einer rationalen Konstruktion des Demiurgen, der Natur oder der Vorsehung, sodass deren Teile von vornherein in eine übergreifende Ordnung eingebettet sind und aufeinander verweisen. Die Teile sind gewissermaßen die Wörter eines zusammenhängenden Textes, der einen ‹Sinn› ergibt. Unter dieser Voraussetzung lassen sich Semantik und Ontologie nicht mehr eindeutig trennen. Die ontologischen Strukturen und Elemente eines Kosmos haben immer zugleich auch eine ‹Bedeutung›. Der antike Bildbegriff, wie er insbesondere in der wirkmächtigen Urbild-Abbild-These Platons zum Ausdruck kommt, enthält daher stets Residuen einer magischen Auffassung, nach der das Bild den Gegenstand nicht nur repräsentiert, sondern irgendwie enthält. Die Analogisierung von Mikro- und Makrokosmos exemplifiziert dieses Verständnis sehr einprägsam; und auch in der biblischen These vom Menschen als Ebenbild Gottes ist dieses Enthaltensein oft mitgedacht worden. Die ‹wörtliche› Bedeutung einer

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