Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
heißen, wäre für Voltaire unzumutbar. Sie war, wie der Brief und spätere Publikationen erkennen lassen, aber auch für die übrige Menschheit nicht vorgesehen. Doch alle diese Versicherungen halfen nichts.
In unserem Zusammenhang geht es nicht um die Frage, wie berechtigt die Kritik Voltaires war; es geht um den Bedeutungswandel unserer Metapher. Sie steht jetzt offenbar nicht mehr für die Stellung des Menschen im Kosmos oder für seine Beziehung zu Gott, sondern für eine bestimmte Form des sozialen Lebens: eines Lebens unter den Bedingungen der Zivilisation, des Fortschritts und der Aufklärung. Einige Jahre später wird der Baron d’Holbach (natürlich anonym) seine Taschentheologie veröffentlichen, ein satirisches Lexikon der christlichen Religion, in dem die neue Stoßrichtung der Metapher deutlich ans Licht tritt. Unter dem Lemma «Mensch» finden wir hier den folgenden Eintrag: «Der gewöhnliche Mensch wird beschrieben als ein Tier aus Fleisch und Knochen, das auf zwei Beinen geht, wahrnimmt, denkt und urteilt. Nach dem Evangelium und nach Jean-Jacques darf der Mensch weder wahrnehmen noch denken noch urteilen, ja, er müßte von Rechts wegen auf allen vieren gehen, damit seine Priester bequemer auf seinen Rücken steigen können.» (1768: 235) Der Seitenhieb auf Rousseau liegt ganz auf der Linie Voltaires und bekräftigt noch einmal den Funktions- und Bedeutungswandel der Metapher: Als ‹aufrecht› gilt jetzt nicht mehr, wer der Sünde widersteht und dem Wort Gottes gehorcht; sondern wer autonom denkt und sich von seinen Vormündern emanzipiert, gerade auch von seinen religiösen Vormündern. – Eine Bestätigung dafür liefert die Symbolpolitik der Aufklärung, die sich nicht mit dem Kampf gegen soziale Erniedrigung und politische Unterdrückung (man beachte die räumlichen Konnotationen dieser Substantive!) begnügt, sondern auch gegen politische Symbole und religiöse Rituale wendet, die eine Erniedrigung oder Unterdrückung zum Ausdruck bringen. Zwar war Diderot im ersten Band der Enzyklopädie noch bereit, das Beugen der Knie vor einem Menschen oder einem Bilde zuzulassen, soweit es sich lediglich um ein äußeres Zeremoniell handelt. (1751: 256f.) Vier Jahrzehnte später lehnte Immanuel Kant jegliche Form der «Kriecherei» umso schroffer ab; auch liturgische Usancen fanden keine Gnade: «Das Hinknien oder Hinwerfen zur Erde, selbst um die Verehrung himmlischer Gegenstände sich dadurch zu versinnlichen, ist der Menschenwürde zuwider … Das Bücken und Schmiegen vor einem Menschen scheint in jedem Fall eines Menschen unwürdig zu sein.» [35] Schon der bloß symbolische Verzicht auf die aufrechte Haltung gilt ihm als eine Verletzung der Pflichten des Menschen gegen sich selbst, als ein Verstoß gegen die Menschenwürde.
Die postbürgerlichen Emanzipationsbewegungen des 19. Jahrhunderts knüpften an diese aufklärerische Umdeutung der Metapher an und radikalisierten sie. So veröffentliche der US-amerikanische Journalist Edward Bellamy 1888 einen nicht nur in seiner Heimat außerordentlich erfolgreichen utopischen Roman, an dessen Schluss er den Hauptprotagonisten aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887 zurückblicken und die Errungenschaften würdigen lässt, die seitdem in der Reform der Gesellschaft erreicht wurden. «Seit ungezählten Generationen hatte auf der Menschheit beständig ein Druck der Lebensbedingungen gelastet, stark genug, Engel zu verderben. Er hatte den natürlichen Adel unseres Geschlechts nicht an der Wurzel zu treffen vermocht. Sobald er verschwunden war, schnellte auch die Menschheit gleich einem Baum empor, der nicht länger mit Gewalt zu Boden gezogen wird, sie stand wieder aufrecht da, wie es ihrem eigensten Wesen entspricht.» Soll der Übergang in die Vertikale hier die Befreiung von einem jahrhundertelangen Druck anzeigen, so wird im weiteren Verlauf des Rückblicks deutlich, dass dies nicht als ein einmaliger Vorgang verstanden werden soll. Mit der Aufrichtung in die Vertikale ist eine Last abgeworfen, zugleich aber vor allem das Tor in die Zukunft aufgestoßen: «Wir gleichen einem Kinde, das soeben erst aufrecht stehen und gehen gelernt hat. Für das Kind bedeutet es ein wichtiges Ereignis, wenn es die ersten Schritte tut. Vielleicht wähnt es, dass ihm nach dieser Errungenschaft nur noch wenig zu erreichen übrig bleibt, aber schon nach einem Jahre hat es vergessen, dass es nicht immer gehen konnte. Sein Horizont war größer, als es aufstand, er erweiterte
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