Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
zurechtgewiesen werden, wenn es sich angewöhnte, ausschließlich rückwärts zu laufen; und ein Minister, der seine Amtspflichten auf Händen gehend absolvierte, würde wohl nicht lange im Amt bleiben. Wir würden unsere Missbilligung solcher extravaganten Verhaltensweisen aber nicht mit ihrer Naturwidrigkeit begründen, sondern mit der Verletzung sozialer Normen. Der metaphorische Wandel beschränkt sich aber nicht auf eine Verlagerung vom kosmologischen auf das soziale Feld, sondern schließt eine zeitliche Dynamisierung ein. Betont wird zunehmend die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Geschichte also; und ihre Veränderbarkeit durch politisches Handeln. Die normative Botschaft der Metapher vom aufrechten Gang zielt nicht mehr auf die Einpassung in eine kosmische Ordnung oder auf die Unterwerfung unter den Willen Gottes; sondern auf das selbstbewusste Eintreten für die eigenen Interessen und die eigene Würde. Dieses aktivistische Verständnis der Metapher hat sich weit über den akademischen Rahmen hinaus durchgesetzt und ist zur mobilisierenden Parole in realen politischen Kämpfen geworden. [36] Wo viel auf dem Spiel steht und wo Widerstände überwunden werden müssen, da soll sich der moderne Mensch auf seine beiden Füße stellen; denn Fortschritt findet nur statt, wo man für ihn aufsteht.
Blicken wir auf die in den vorangegangenen Kapiteln dieses Buches skizzierten Deutungen des aufrechten Ganges zurück und resümieren wir ihre historische Entwicklung, so ergibt sich ein zwiespältiger Befund. Auf der einen Seite ist nicht zu übersehen, dass die besten Tage des aufrechten Ganges vorbei sind. Dem metaphysischen Boden, auf dem dieses Denkmotiv über zwei Jahrtausende üppig wuchern und blühen konnte, hat das neuzeitliche Denken nach und nach die Nährstoffe entzogen. Wenn es keinen Kosmos gibt, kann der Mensch keine ausgezeichnete Stellung in ihm einnehmen; und dann kann die senkrechte Körperhaltung diese ausgezeichnete Stellung auch nicht mehr zum Ausdruck bringen. Die metaphysischen Garantien der menschlichen Existenz zerbröseln; an ihre Stelle treten vielfältige Unsicherheiten und der aufrechte Gang wird zu einer ihrer Quellen. – Die Transformation eines kosmischen Privilegs in einen Risikofaktor ist aber nur die eine Seite des Prozesses, den wir unter dem Terminus ‹Moderne› kennen. Seine andere Seite ist ein ständig anwachsendes Bewusstsein eigener Macht. Der Mensch schreibt sich als eigene Leistung zu, was vorher als ein Werk der Natur, der Vorsehung oder Gottes gegolten hatte. Auch der aufrechte Gang gilt nun als eine solche Leistung, die ‹wir› vor Millionen von Jahren als Gattung vollbracht haben, und die seither von jedem Einzelnen von uns in der Kindheit wiederholt wird. In die metaphysische Ernüchterung mischt sich damit ein Bewusstsein der Befreiung von naturwüchsigen Vorgaben und der Freiheit zu ihrer Neugestaltung. Was kontingent ist, kann eben auch anders sein, und kann daher prinzipiell von uns geändert werden. In erster Linie gilt das natürlich für die soziale und kulturelle Welt, die ohnehin unser eigenes Produkt ist. Gerade wo es um ihre Gestaltung geht, hat der aufrechte Gang seine metaphorische Kraft bewahrt. Dass seine besten Tage dahin sind, gilt also nur für seine metaphysisch grundierte Verwendung, nicht für seine normative Funktion überhaupt. Die Moderne ist keine symbolfreie Ära. Auch unter ihren Bedingungen kommt unser Denken und Sprechen nicht ohne Metaphern aus. Der aufrechte Gang ist eine davon; und wird es wohl auch bleiben.
Anhang
Literaturverzeichnis
Aarsleff, Hans (1982): «The Tradition of Condillac: The Problem of the Origin of Language in the Eighteenth Century and the Debate in the Berlin Academy before Herder.» In: From Locke to Saussure. Essays on the Study of Language and Intellectual History. S. 146–209.
Adkins, A. W. H. (1970): From the Many to the One. A Study of Personality and Views of Human Nature in the Context of Ancient Greek Society, Values and Beliefs. London: Constable.
Aitchison, Jean (1996): The Seeds of Speech. Language Origin and Evolution. Cambridge: Cambridge UP.
Alberti, Leon Battista (1434–1441): Über das Hauswesen [ I libri della Famiglia ]. Übersetzt von Walther Kraus. Zürich und Stuttgart: Artemis 1962.
Albertus Magnus (1246): De homine. Übersetzt von Henryk Anzulewicz. Hamburg: Felix Meiner 2004.
Almond, Philip C. (1999): Adam and Eve in Seventeenth-Century Thought. Cambridge:
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