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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Aussage kann unter diesen Bedingungen nahtlos in eine ‹metaphorische› Bedeutung übergehen. In der neuzeitlichen Welt verläuft parallel zu dem Graben, der Tatsachen von Werten trennt, eine Mauer, auf deren einer Seite die wörtliche Bedeutung sprachlicher Ausdrücke zu Hause ist, auf deren anderer die metaphorische Bedeutung. In der klassischen Welt war der Graben nicht tief gewesen und die Mauer nicht hoch, sodass bei beiden zahlreiche Wege gangbar blieben, die von der einen Seite auf die andere führten.
    Erst wenn die der Welt inhärenten Sinnstrukturen zerfallen und durch neutrale Gesetzmäßigkeiten ersetzt worden sind, wenn aus dem Kosmos eine ‹Natur› geworden ist, wird eine strikte Unterscheidung von wörtlicher und metaphorischer Redeweise möglich und notwendig. In den Denkbewegungen, die wir im dritten Teil dieses Buches verfolgt haben, ist also nicht nur eine neue Auffassung der Welt und ein neues Selbstverständnis des Menschen entstanden, sondern zugleich auch die Metapher vom aufrechten Gang. Spätestens im 18. Jahrhundert gabelt sich die Rede vom aufrechten Gang daher in zwei verschiedene Zweige: In die wörtliche Rede über das physische Merkmal und in die metaphorische Rede über die Würde des Menschen und die mit ihr verbundenen normativen Orientierungen. Lotzes oben [Kap. 22] referierte Polemik gegen die verschiedenen Varianten «einer symbolischen Deutung der Naturformen» ratifiziert diese Gabelung und unterbindet damit zugleich jeden Zweifel darüber, was von den Zweigen jeweils zu halten ist. Zum einen kritisiert er die Vieldeutigkeit, ja Beliebigkeit der symbolischen Deutungen, die sich durchweg als Projektionen erweisen lassen; als das mithin, was sie nach dem kosmologischen Denken gerade nicht sein sollen: konventionelle (und in diesem Sinne: subjektive) Festlegungen. Zum anderen insistiert er auf handfesten Erklärungen der empirischen Phänomene. «Es kam daher wenig unmittelbar darauf an, daß der Mensch zum Symbol seiner Herrschaft seinen Leib aufrichte, eine Stellung, die ihm die Fettgänse des Polarmeeres mit nutzloser Feierlichkeit kopieren; es lag mehr daran, daß diese Stellung allein ihm die Möglichkeit zu jenen Handlungen gab, durch welche er in Wirklichkeit diese Herrschaft über alle anderen Geschlechter ausübt.» (1858: 95) – Es liegt nahe, diese Passage als eine Art Todesurteil aufzufassen. Das symbolische Denken und metaphorische Sprechen über den aufrechten Gang hätte demnach mit seiner metaphysischen Basis auch seine rationale Berechtigung (sofern es sie jemals hatte) eingebüßt. Die Entzauberung der Welt hätte auch dieses Hätschelkind des kosmologischen Denkens nicht verschont; sofern wir keine Dichter sind oder werden wollen, müssten wir auf überschwängliches metaphorisches Reden über den aufrechten Gang verzichten.
    Das ist aber nur eine mögliche Deutung; denn man kann Lotzes Polemik auch anders verstehen: als eine Intervention nicht gegen Symbolik und Metaphorik schlechthin, sondern gegen ihre Vermischung mit kausalem Denken und wörtlichem Reden. Das Problem entstünde in dieser Lesart nicht schon dann, wenn wir den Topos vom aufrechten Gang metaphorisch verwenden; sondern erst dann, wenn wir den metaphorischen Charakter einer solchen Redeweise unterschlagen und ihr eine fiktive empirische oder metaphysische Grundlage unterschieben. – Damit nähern wir uns dem angekündigten dritten Punkt. Wir haben oben gesehen, dass die Metaphorik sich zunächst vor allem auf die Stellung des Menschen im Kosmos bezieht und ihre normativen Gehalte aus dieser Stellung zu gewinnen sucht; dass sie sich in der Neuzeit jedoch weitgehend auf das Feld von Geschichte, Gesellschaft und Politik verlagert. Wie kurz die kosmologische Leine war, an der der Mensch zu gehen hatte, zeigt eine Äußerung Ciceros, die das Gehen auf den Händen als naturwidrig und damit schändlich brandmarkt. Wenn man nämlich von den sich aus der Struktur des menschlichen Körpers ergebenden natürlichen Bewegungen und Stellungen abweiche, «wenn man z.B. auf den Händen läuft oder nicht vorwärts, sondern rückwärts geht, scheint der Betreffende geradezu sich selbst untreu zu werden, und, indem er den Menschen seines Menschseins entkleidet, die Natur zu hassen.» (De fin.  V,35) Befremdlich an dieser Äußerung ist nicht ihr Urteil über die beschriebenen Fortbewegungsweisen; befremdlich sind vielmehr die Urteilsgründe. Auch heute würde ein Kind von seinen Eltern oder Lehrern

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