Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
katholische Orthodoxie gegen liberale Kritik zu verteidigen, erklärt er seinen Lesern die Etymologie des Begriffs ‹Orthodoxie›: «Das Wort orthos heißt nämlich Recht oder Aufrecht, und wenn darum Religion und Kirche die Orthodoxie verlangen, so verlangen sie die Aufrichtigkeit (Moralität) des Gläubigen. Hiemit aber verlangen sie keine Servilität, sondern Freiheit des Gemüthes und Geistes, weil nur der Aufrechtstehende fest und sicher steht, und nur der Feststehende auch in seinen Bewegungen sicher und frei ist. Wenn die Physiologie erwiesen hat, dass nur die aufgerichtete Stellung dem Menschen (im Vergleich mit dem Thiere) die freie Disposition über seine Gliedmaßen gibt, so gilt das Gesetz allgemein, nämlich auch für die Intelligenz, und dass nur das Aufgerichtetsein oder die Aufrichtigkeit im höheren Sinne die Intelligenz im Gebrauch der Kräfte (Glieder) frei macht und lässt, so wie, dass dieses: sursum corda ad dominum! das Gesetz für alle freien Verbindungen, Constitutionen oder Social-Verfassungen ausspricht, dass folglich der Begriff des Rechten oder des Rechtes religiösen Ursprungs als Aufrichtung zu Gott ist.» (1829: 293f.) Ob die semantische Brücke zwischen ‹aufrecht› und ‹aufrichtig› tragfähig genug ist, um die argumentativen Lasten zu tragen, die ihr Baader zumutet, wird man inzwischen eher bezweifeln. Unabhängig davon lassen seine Formulierungen aber erkennen, dass er sie vor einem tief veränderten Denk- und Problemhorizont niederschreibt. Auffällig ist erstens die Betonung des Zusammenhangs zwischen Aufgerichtetheit und Freiheit, die für einen Verteidiger der religiösen Orthodoxie nicht unbedingt nahe liegt, und die einem Autor wie Bernhard von Clairvaux oder dem Heiligen Bonaventura sicher ganz abwegig vorgekommen wäre. Von diesen Glaubensgenossen trennt Baader eine epochale Distanz; näher steht er seinen älteren Zeitgenossen Fichte und Hegel, insbesondere seinem Münchener Kollegen Schelling, die den aufrechten Gang ja bereits in eine enge Beziehung zur menschlichen Freiheit gerückt hatten [Kap. 22]. Bemerkenswert ist zweitens der unerwartete Gedankensprung zu den «freien Verbindungen, Constitutionen oder Social-Verfassungen» und zum Recht. In der christlichen Tradition hatte dieser Bezug auf gesellschafts-, politik- und rechtstheoretische Phänomene bis dato keine Rolle gespielt.
Franz von Baader war nicht der erste gewesen, der dem metaphorischen Gebrauch des aufrechten Ganges eine solche Wendung in den Bereich des sozialen Lebens gegeben hatte. Baader führt nur eine Entwicklung fort, deren Ursprünge im gesellschafts- und religionskritischen Denken der Aufklärung liegen. Nehmen wir zum Beispiel die in einigen Stücken einem Schlagabtausch ähnliche Korrespondenz zwischen Voltaire und Rousseau. Den ersten Hieb teilte Voltaire aus, als er sich am 30. August 1755 für die Zusendung des kurz zuvor erschienenen Diskurs über die Ungleichheit bedankte: «Ich habe, Monsieur, Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten und danke Ihnen dafür … Man bekommt Lust, auf allen vieren zu gehen, wenn man ihr Werk liest. Da ich jedoch seit mehr als sechzig Jahren diese Gewohnheit abgestreift habe, fühle ich unglücklicherweise, daß es mir unmöglich ist, sie wiederaufzunehmen. Und so überlasse ich diesen natürlichen Gang denen, die seiner würdiger sind als Sie und ich.» [34] Es ist leicht erkennbar, dass die Metapher in Voltaires giftigem Dankesbrief eine ganz andere Stoßrichtung genommen hatte. Das Gehen auf allen vieren steht für ein animalisches Leben in den dunklen Wäldern, für eine Kost aus Eicheln und Kräutern und ein Nachtquartier auf Moosen und Zweigen. Voltaire unterstellte der rousseauschen Kulturkritik einen antizivilisatorischen Affekt, ein Plädoyer für die Wiederherstellung eines tierischen Zustands. Sein Brief zirkulierte in zahlreichen Abschriften und hatte nachhaltigen Einfluss auf die Rezeption Rousseaus, der sich in seinem Antwortbrief vom 7. September vergeblich gegen die Karikatur seiner Ansichten verwahrte. Voltaires polemische «Lust auf allen vieren zu gehen» aufgreifend, riet er ihm von einer Rückkehr zu dieser Fortbewegungsweise ab: «Versuchen Sie also nicht, wieder auf allen vieren zu gehen, niemandem auf der Welt gelänge dies schlechter als Ihnen: Sie stellen uns viel zu gut auf unsere beiden Füße, als daß Sie aufhören könnten, sich auf den eigenen zu halten.» Eine Rückkehr in die Wälder, sollte das
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