Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
sich, als es sich fortbewegte. Sein erster Schritt war in gewissem Sinne tatsächlich eine wichtig Begebenheit, jedoch nur als Anfang, nicht als Ende.» (1888: 210, 213) In Äußerungen wie dieser zeichnet sich ein Übergang von der räumlichen zur zeitlichen Dimension ab. Die Metaphorik bezieht sich nicht mehr allein auf eine bestimmte ‹Stellung› des Menschen im sozialen Raum, sondern auf eine in Gang gesetzte Bewegung und Entwicklung: auf das ‹Voranschreiten›, auf den sozialen ‹Fortschritt› also. – Es verwundert daher nicht, dass ein utopischer Denker wie Ernst Bloch sich immer wieder der Metapher vom aufrechten Gang in genau dieser zukunfts- und fortschrittsorientierten Bedeutung bedient hat. In seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung heißt es beispielsweise: «Auf tausend Kriege kommen nicht zehn Revolutionen; so schwer ist der aufrechte Gang.» (1959: 551) Die Pointe dieser Formulierung reduziert sich nicht auf die Verbindung zwischen Krieg und Kriechen einerseits, Revolution und aufrechter Gang andererseits; sie besteht vor allem in dem Hinweis auf die Schwierigkeit des aufrechten Ganges. Er ist, eben weil er «schwer» ist, noch nicht (vollkommen) realisiert und daher ein Zukunftsprojekt: der Inbegriff sozialer Utopie. An einer späteren Stelle desselben Werks wird das explizit ausgesprochen: «Aufrechter Gang, er zeichnet vor den Tieren aus, und man hat ihn noch nicht. Er ist nur erst als Wunsch da, als der, ohne Ausbeutung und Herrn zu leben.» (1618) Nicht ausgesprochen, aber subkutan angedeutet ist eine weitere Bedeutungsnuance. Der Wunsch, «ohne Ausbeutung und Herrn zu leben», wird wohl auf Widerstand treffen und muss gegen ihn realisiert werden: Kein aufrechter Gang ohne vorherigen ‹Aufstand›!
Aufzustehen in diesem emphatischen Sinne ist allerdings nicht nur gegen die politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse, sondern ebenso gegen Abhängigkeiten auf dem Feld des privaten Lebens. Um seine Würde zu bewahren oder zurückzugewinnen muss der Mensch auch hier den bequemen Trott aufgeben und sein Haupt erheben. Wie man durch die Nacht ins Licht schreitet, hat Mary Roos durch ihren unvergessenen Auftritt beim Eurovision Song Contest des Jahres 1984 vorgemacht, als sie mit ihrem Lied «Aufrecht geh’n» einen hochverdienten dreizehnten Platz belegte. Uns soll die erste Strophe dieses Klassikers genügen:
Also dann
adieu
ich mach’ dir keine Szene
Dreh’ dich um und geh’
dein Mitleid brauch’ ich nicht
Vielleicht bin ich verzweifelt
vielleicht geht es mir schlecht
doch du wirst sehn
jetzt werde ich erst recht –
Aufrecht gehn
aufrecht gehn
ich habe endlich gelernt
wenn ich fall
aufzustehn
Mit Stolz in meinen Augen und trotz Tränen im Gesicht –
aufrecht gehn durch die Nacht ins Licht.
Überblicken wir diese Entwicklung der Metapher, so fallen drei Punkte ins Auge. Der erste betrifft die erstaunliche Kontinuität ihres Gebrauchs. Ob es sich um antike Philosophen, christliche Mönche, bürgerliche Aufklärer oder sozialistische Utopisten handelte: Über mehr als zwei Jahrtausende hinweg war die zweibeinige Struktur des Körpers ein Startpunkt ihres Denkens über das Wesen des Menschen, insbesondere aber über die Normen und Ideale seines Lebens. Wie bei Platon, so zeigt uns die aufrechte Körperhaltung auch bei Bernhard, bei Voltaire oder Bloch, was wir tun und was wir lassen sollen. Diese Kontinuität ist aber nur das Eine. Denn offensichtlich wurde die Körperhaltung für sehr unterschiedliche Inhalte und Normen in Anspruch genommen. Der tiefe Bedeutungswandel, den die Metapher von Platon bis Bloch durchlaufen hat, zeigt vor allem eins: Die substantielle Festlegung, die wir durch ihren Gebrauch eingehen, ist eher schwach. Wir mögen eine unwiderstehliche Neigung haben, die Welt aus der Perspektive unserer natürlichen Körperhaltung zu betrachten und zu deuten; doch wir können das auf deskriptiv und präskriptiv sehr unterschiedliche Weise tun. Metaphern sind ein Mittel, kein Gefängnis unseres Denkens.
Betrachten wir die Diskontinuität etwas genauer, so stoßen wir auf den zweiten Punkt. Der denkhistorische Wandel betrifft nämlich nicht nur den Inhalt der Metapher, sondern auch ihren metaphorischen Status selbst. Als Voltaire von seiner Lust «auf allen vieren zu gehen» sprach, dürfte ihm der metaphorische Charakter dieser Redeweise bewusst gewesen sein. Und dasselbe gilt für Ernst Bloch. In seiner Trierer Festrede zum 150. Geburtstag von Karl Marx
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