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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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wenn sich nicht die wizigen Künste der Menschen sie zu verbessern bemühet hätten, traurig, einsam und rauh seyn würde». (47f.) Moscati will die Obsoletheit des klassischen Weltbildes zeigen und hält ihm die Leistungsfähigkeit der modernen Wissenschaft entgegen, insbesondere die Überlegenheit der vergleichenden Anatomie gegenüber dem bloß poetischen, bloß philosophischen Denken. Die Wahrheit über den Menschen entscheidet sich nicht in den Studierstuben und Bibliotheken, sondern im «anatomischen Theater». Hier, auf dem Seziertisch und unter dem Messer, erweisen sich die körperlichen Unterschiede zwischen Mensch und Tier als geringfügig und der auffallendste von ihnen als nachteilig. Seinen Hörern ruft er zu: «Ihnen, die Sie nachdenkende Philosophen, und mit feinen metaphysischen Gaben reichlich versehen sind; kömt es zu, alle die Vortheile der zweyfüßigen senkrechten Stellung zu samlen und zu vergleichen; da es unterdessen mir, der ich hier bloß einen naturforschenden Zergliederer vorstelle, genug seyn wird, die organischen würklichen unvermeidlichen Uebel davon angezeigt zu haben.» (49f.) Was sich in diesen Worten als ein Angebot zur Kooperation präsentiert, erweist sich bei näherer Prüfung als eine Kampfansage. Denn während den Naturwissenschaften die Analyse der «würklichen unvermeidlichen Uebel» des aufrechten Ganges zugewiesen wird, bleibt den «nachdenkenden Philosophen» nur das Sammeln seiner unwirklichen Vorteile.
    Das war eine Provokation und wurde auch so aufgefasst. Aber Moscati war weder politisch noch philosophisch ein Radikaler. In seiner Rede dauert es nicht lange, bis er auf den Materialismus zu sprechen kommt und sich unmissverständlich von ihm distanziert. «Die würksamste Widerlegung, die sich von dem menschlichen Materialismus machen läßt, scheinet diejenige zu seyn, welche sich auf eine vernünftige Zergliederungskunde gründet. Denn in der That, wenn es dem Zergliederer glücken sollte, zu erweisen, daß der menschliche Körper, in so fern er materiell ist, im geringsten nicht über den Körper des Viehes erhaben ist; ja wenn es ihm so gar glücken sollte, größere Unvollkommenheiten bey jenem, als bey diesem zu finden, würde es dann nicht klar genug seyn, daß der Mensch durch einen ganz andern Grund, als die innere Einrichtung seines Körpers, über alle andere Thiere, wie so viele Vorfälle seines Lebens erweisen, unendlich erhaben ist? Und hier siehet man, wohin eine gründliche Weltweisheit führet, und wie sehr der Fleiß, den man auf die wahre Naturkunde wendet, die ehrwürdigsten und heiligsten Lehren der Wissenschaften aufzuklären dienet.» (5f.) Dies ist der subjektiv wohl zentrale Teil der Botschaft, die Moscati seinem Auditorium zu vermitteln trachtet: Die vergleichende Anatomie und die Naturwissenschaften allgemein führen nicht zu radikalen philosophischen Lehren, sondern bestätigen ihr Gegenteil. Denn daraus, dass es keine wesentlichen körperlichen Unterschiede zwischen Mensch und Tier gibt, folgt nicht, dass überhaupt keine Unterschiede zwischen ihnen existieren; vielmehr folgt für Moscati, dass diese Unterschiede nicht körperlicher Natur sind. Es ist seine unsterbliche Seele, die den Vorzug des Menschen gegenüber den Tieren bildet; diesen Vorzug verdanken wir dem «höchsten unendlichen Schöpfer der Welt und der Menschen, … der aus der Unvollkommenheit der menschlichen Materie das erhabenste Werk auf dem ganzen Erdboden gebildet hat». (96) Die wahre Naturwissenschaft, so lässt Moscati hier wissen, führt nicht zum Materialismus, sondern zum Glauben an Gott und an eine unsterbliche Seele. Wir erinnern uns an Linné, der zwar die Differenz von Mensch und Tier gesehen und betont, wissenschaftlich aber nicht nachzuweisen vermocht hatte.
    Moscatis Antimaterialismus harmoniert mit dem Naturverständnis, das seiner Rede zugrunde liegt. Die scharfe Polemik gegen den Finalismus folgt nämlich nicht aus jenem neutralistischen Verständnis von Natur, das sich im 17. Jahrhundert durchzusetzen begonnen hatte und nach dem sie eine Gesamtheit kontingenter Dinge und Prozessen ist. Stattdessen bleibt unser Festredner der Idee einer fürsorglichen Providenz verbunden. «Wenn die senkrechte Stellung des menschlichen Körpers, weder die festeste, noch die bequemste, noch die gesundeste ist; wenn es wahr ist, wie wir oben erwiesen haben, daß der Mensch, in so fern er ein lebender Körper, und ein Gegenstand der Untersuchung eines Naturforschers ist,

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