Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
eben so gut, und vielleicht wohl gar noch besser, vierfüßig gelebt haben würde; so können wir mit dem größten Rechte zweifeln, ob ihm die Zweyfüssigkeit nothwendig und von Natur zukomme; und folglich werden wir auch diese Stellung keineswegs in die Zahl der wesentlichen Unterscheidungszeichen, zwischen dem Baue der Menschen und der übrigen Thiere, aufnehmen dürfen.» (54f.) Der beinahe schulmäßige Aufbau dieses Arguments mit zwei Prämissen und zwei Konklusionen, macht es leicht, die fehlende Hauptprämisse zu identifizieren, die den Schluss erst gültig machen könnte: dass die Natur (oder Gott) alles zum Besten ihrer Geschöpfe einrichtet und dass Gesundheit und Bequemlichkeit daher ‹natürlich›, Krankheit und Unbequemlichkeit aber ‹unnatürlich› sind. Genau diese Prämisse hatte auch den finalistischen Theorien zugrunde gelegen, wie sie im Rahmen des kosmologischen Denkens vertreten worden waren. Obwohl die Kritik dieser Theorien ein Hauptanliegen Moscatis war, teilt er mit ihnen doch zumindest eine Annahme: dass die Natur (oder Gott) es gut mit dem Menschen meint und gut für ihn sorgt. Während seine Vorgänger daraus allerdings geschlossen hatten, dass die Natur den Menschen aufgrund ihrer vorsorglichen Güte aufgerichtet haben müsse; schließt Moscati, dass eine vorsorgliche Natur dies nicht getan haben könne.
Die traditionalistischen und versöhnlichen Elemente der Rede wurden in der aufgeregten Debatte, die sich an ihr entzündete, komplett übersehen. Dass Moscati einen wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier nachdrücklich hervorhob, war offenbar weniger Aufsehen erregend als seine These, dass es keinen wesentlichen körperlichen Unterschied zwischen ihnen gebe. Entsetzen und Empörung lösten vor allem seine despektierlichen Äußerungen zum aufrechten Gang aus. Obwohl dieses Merkmal einen Teil seines alten Renommees bereits eingebüßt hatte, wurde seine Behandlung durch Moscati als ein Skandal empfunden. Tatsächlich setzt Moscati die sich in der Moderne abzeichnende Tendenz zur Entzauberung der aufrechten Haltung nicht einfach fort, sondern spitzt sie zu. Niemals zuvor war ihr die Ehre der Natürlichkeit so entschieden abgesprochen worden. Da der Naturbegriff, ungeachtet des sich ausbreitenden Kontingenzbewusstseins im 18. Jahrhundert (und weit darüber hinaus bis in die Gegenwart) positiv konnotiert war, konnte die These der Unnatürlichkeit nur als Abwertung wahrgenommen werden. Dies umso mehr, als die aufrechte Haltung zur Quelle zahlreicher Übel und Krankheiten erklärt wird. So weit war, zumindest in diesem Punkt, niemand vor ihm gegangen – Auf einer allgemeineren Ebene aber schließt sich Moscati offensichtlich der Kulturkritik Rousseaus an, aus dessen Diskurs über die Ungleichheit er mehrfach zitiert. Wir wundern uns daher nicht, dass Moscati sich über «die nachtheilige Mode, zweyfüßig zu seyn» mokiert und sie gegen «die wahre Glückseligkeit der starken vierfüßigen Thiere in den Wäldern» ausspielt. (38ff.) Die Gemeinsamkeiten gehen aber über diese plakative Gegenüberstellung hinaus; und sie erstrecken sich auch auf einige Ansichten von James Burnet, der sich in seinem Werk durchgängig mit Rousseau auseinandergesetzt hatte. Drei Punkte seien hervorgehoben.
Eine erste Gemeinsamkeit dieses ansonsten ungleichen Dreigestirns ergibt sich aus der konstitutiven Rolle, die der Opposition von ‹natürlich› und ‹künstlich› in ihren Arbeiten zugewiesen wird. Dieser Kontrast war schon für das Denken des 17. Jahrhunderts prägend gewesen; im 18. Jahrhundert wurde er zu einer theoretischen Obsession. Nun hatte Rousseau in Bezug auf den aufrechten Gang ausdrücklich dessen Natürlichkeit verteidigt: einmal als Hypothese, dann aber auch mit empirischen Argumenten. Solche Argumente wollte Moscati nicht gelten lassen; ebenso wenig Burnet. Doch wenngleich Moscati und Burnet darin übereinkommen, dass der aufrechte Gang nicht natürlich sei, divergieren die Bewertungen dieser Unnatürlichkeit. Während der schottische Richter in dem Übergang von der Vier- zur Zweifüßigkeit einen «Fortschritt» sieht, präferiert der italienische Doktor eine Verfallsgeschichte à la Rousseau. Für die aufrechte Fortbewegungsweise gilt dasselbe, was Rousseau für die Errungenschaften der Kultur festgestellt hatte: Wir zahlen einen zu hohen Preis für sie. Beide Autoren stellen eine negative Kosten-Nutzen-Rechnung auf, ohne deshalb für eine Rückkehr zum
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