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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Weichenstellung vorgenommen: Die Entstehung der Zivilisation und ihr Fortschreiten können und müssen dem Menschen selbst kausal zugerechnet werden. Für ihn ist diese Zurechnung von zentraler Bedeutung, weil er die Entstehung der Zivilisation für eine Fehlentwicklung hält, für die weder Gott noch die Natur verantwortlich sein soll, sondern allein der Mensch selbst. Das Theodizee-Motiv steht im Zentrum des rousseauschen Denkens und noch Kant hat hierin das entscheidende Verdienst Rousseaus gesehen. Moscati erweist sich auch in diesem Punkt als ein treuer Rousseauist. Seine Festrede war eine medizinische Theodizee. Die augustinische Frage ‹unde malum?› wird auf die menschlichen Krankheiten zugespitzt und mit einem Verweis auf den aufrechten Gang beantwortet. Nicht Gott oder die Natur sind die Quelle der körperlichen und auch einiger geistiger Übel, sondern die von den Menschen selbst betriebene körperliche Aufrichtung. Wovon Gott und die Natur entlastet werden, muss der Mensch auf sein eigenes Konto buchen. Dass Moscati die Abweichung von der natürlichen Haltung auf eine willkürliche Laune einzelner Individuen zurückführt und den aufrechten Gang zur «Mode» abqualifiziert, der die übrigen Menschen blindlings folgen, war nicht als ein Kompliment intendiert, lief letzten Endes aber auf etwas Ähnliches hinaus. Der Mensch erkennt sich als einen machtvollen Akteur, der in einer Reihe mit Gott und der Natur steht. Sicher nicht mit derselben Handlungsmacht ausgestattet wie sie und vor allem nicht über dieselbe Voraussicht verfügend; aber immerhin machtvoll genug, sich aus eigenem Entschluss und eigener Kraft aufzurichten. Wie schon zuvor bei Rousseau, profitiert der Mensch auch bei Moscati von der Entschuldigung Gottes und der Natur. Er verfügt jetzt über ein Konto, auf das die negativen Folgen seiner Handlungen verbucht werden können. Einmal zum Kontoinhaber avanciert, konnten ihm dann aber auch positive Folgen gutgeschrieben werden. Im Hinblick auf den aufrechten Gang, aber auch auf andere Eigenschaften wie die Sprache, [29] geschieht das zwei Jahrzehnte später in den Schriften Lord Monboddos.
    Natürlich wurden diese Veränderungen in der ‹Tiefenstruktur› des Weltbildes von den Zeitgenossen nicht immer mit derselben Klarheit wahrgenommen, mit der sie im historischen Rückblick erkennbar sind. Noch schwerer war es, sie in der Gelegenheitsschrift eines Außenseiters wie Pietro Moscati wahrzunehmen. Eine Ahnung von ihnen scheint aber doch manche Reaktion auf sein schmales Bändchen inspiriert zu haben. Tatsächlich hatte es ein erstaunliches Echo; nicht nur in Italien, sondern auch in Deutschland. Bereits 1771, also ein Jahr nach der italienischen Erstveröffentlichung, erschien eine deutsche Übersetzung, die breit rezipiert und heftig kritisiert wurde. Zu den Rezipienten und Kommentatoren gehörten immerhin Autoren wie Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Friedrich Blumenbach, E. A. W. Zimmermann und Jean Paul. [30] Moscati hatte mit seiner extravaganten These an einen empfindlichen Nerv gerührt. – Hier soll nur eine dieser vielen, meist kritischen Reaktionen resümiert werden: die von Johann Gottfried Herder. Der 1784 erschienene erste Teil seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit enthält eine eingehende Auseinandersetzung mit den organischen Differenzen zwischen Mensch und Tier. In diesem Zusammenhang kommt Herder auch auf Moscatis Überlegungen zu sprechen und weist diese in drei zentralen Punkten zurück. Zunächst hält Herder die von Moscati vorgelegte Kosten-Nutzen-Rechnung für abwegig. Zwar werde durch den im Vergleich zum Tier «zarteren Bau» des Menschen verschiedenen Krankheiten die Tür geöffnet; doch schaffe die Natur dafür sogleich Ersatz und Milderung, da unsere Gesundheit, unser Wohlsein, unsere Empfindungen und Reize geistiger und feiner seien. «Kein Tier genießt einen einzigen Augenblick menschlicher Gesundheit und Freude; es kostet keinen Tropfen des Nektarstroms, den der Mensch trinkt; ja auch bloß körperlich betrachtet sind seine Krankheiten zwar weniger an der Zahl, weil sein Körperbau gröber ist, aber dafür desto fortwirkender und fester.» (1784: 140) Aus diesem Grund komme dem Menschen auch eine bei weitem längere Lebensdauer zu, als den meisten Landtieren. Zweitens will er nichts von einer historischen Genese des aufrechten Ganges aus einer ursprünglichen und darum «natürlichen» Haltung und Fortbewegungsart wissen. Man

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