Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Ausgangszustand zu plädieren. Schon Voltaire hatte Rousseau, unbeeinflusst von der Lektüre seiner Schriften, die Parole ‹Zurück zur Natur!› unterstellt und dieses Label haftet ihm bis heute an. Ähnlich erging es auch Moscati; ihm wurde die Forderung zugeschrieben, der Mensch solle die «künstliche» zweifüßige Haltung aufgeben und zur «natürlichen» vierfüßigen Gangart zurückkehren. Es war nutzlos gewesen, dass Moscati diese Forderung in seiner Rede präventiv zurückgewiesen hatte. (49) Niemandem war aufgefallen, dass sein Anliegen primär diagnostisch, nicht therapeutisch gewesen war. Überhaupt liegt in der als skandalös wahrgenommenen negativen Bewertung des aufrechten Ganges nur eine Pointe der Rede Moscatis; womöglich nicht einmal die ideenhistorisch bedeutsamste.
Diese wird erkennbar, wenn wir an die Betonung der Veränderungen denken, denen der Mensch nach der Überzeugung aller drei Autoren im Laufe seiner Geschichte unterliegt. Auf sie hatte ja schon Rousseau hingewiesen als er den zivilisierten Menschen mit dem des «Naturzustands» verglich; körperliche Veränderungen standen dabei nicht im Vordergrund, waren aber einbegriffen. Moscati und Burnet greifen diesen Gedanken auf und wenden ihn gezielt auf die menschliche Körperhaltung und Fortbewegungsart an. Die Menschen waren ursprünglich vierfüßig, sind es heute aber nicht mehr; es muss daher ein historischer Übergang von der einen zur anderen Haltung stattgefunden haben. Dass Moscati diesen Übergang negativ bewertet, Burnet in ihm einen grandiosen Fortschritt sieht, ändert nichts an dem entscheidenden Punkt: an der Historisierung der menschlichen Physis. Auch wenn dies nicht als ein Vorgriff auf die biologischen Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts missverstanden werden darf, kommen hier doch erste Ansätze historischen Denkens in der Anthropologie zur Geltung. Der zum aufrechten Gang führende historische Prozess wird sowohl von Moscati, als auch von Burnet als ein kultur-, nicht als ein naturgeschichtlicher Prozess aufgefasst. Moscati spricht von einer «Gewohnheit» oder gar von einer «Mode». Und für Burnet ist evident, «daß die erste Kunst, die der Mensch gelernt haben muß, der Gebrauch seines eigenen Körpers war: Und er muß damit begonnen haben, sich aufzurichten; ohne dies hätte er den Vorteil seiner Körperlänge für Angriff und Verteidigung und für die Ausübung der verschiedenen Lebenskünste nicht haben können.» Der aufrechte Gang erscheint als die erste Kulturleistung des Menschen, die zugleich zum Sprungbrett für alle weiteren Kulturleistungen wird: «Die notwendige Folge der aufrechten Haltung war der Gebrauch der Hände, eines sehr nützlichen Organs, ohne das, wie Xenophon richtig beobachtet hat, unsere Vernunft uns für die Erfindung und Ausübung der Künste wenig genützt hätte.» (35f.) Der Hinweis auf die «Erfindung und Ausübung der Künste» wird uns später [Kap. 24] noch beschäftigen. Es ist leicht erkennbar, dass die zaghaft einsetzende Historisierung der menschlichen Physis Moment eines allgemeinen Übergangs von einem statischen zu einem geschichtlichen Verständnis der Natur und der Welt war. Dieser Übergang geht einher mit einer Aufwertung der Zeit gegenüber dem Raum. Im Rahmen des kosmologischen Denkens war dem aufrechten Gang ja nicht zuletzt deshalb eine so große Bedeutung zugekommen, weil er als Abbild der räumlichen Struktur des Kosmos angesehen wurde. Der Mensch war ein Mikrokosmos, weil seine räumliche Struktur dem (Makro-)Kosmos entsprach. Veränderungen in der Zeit waren weder im Hinblick auf den Mikro- noch auf den Makrokosmos vorgesehen; und wenn sie doch eintraten, konnten sie nur unwesentlich sein. Im 18. Jahrhundert ändert sich diese Gewichtung der Dimensionen: Die Zeit schiebt sich in den Vordergrund und überlagert die räumliche Ordnung. Vom historischen Wandel blieb fortan nichts verschont.
Die These von der historischen Wandelbarkeit des Menschen, seine Körperhaltung und Fortbewegungsweise eingeschlossen, erhält bei unseren drei Autoren eine besondere Pointe dadurch, dass sie mit ihr nicht nur seine Veränderlichkeit, sondern seine Veränderbarkeit behaupten. Die Veränderungen treten nicht einfach ein, sondern werden vom Menschen selbst herbeigeführt. Als dritte Gemeinsamkeit können wir daher festhalten, dass die Menschen bei Rousseau, Moscati und Burnet als Subjekte der Veränderung fungieren. Auch in diesem Punkte hatte Rousseau die entscheidende
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