Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
vierte Teil dieses Buches befassen. Vor dem kulturellen Menschen wenden wir uns dem natürlichen Menschen zu.
19. Die nachtheilige Mode, zweyfüßig zu seyn
Wenn die senkrechte Stellung des menschlichen Körpers, weder die festeste, noch die bequemste, noch die gesundeste ist; wenn es wahr ist, wie wir oben erwiesen haben, daß der Mensch, in so fern er ein lebender Körper, und ein Gegenstand der Untersuchung eines Naturforschers ist, eben so gut, und vielleicht wohl gar noch besser, vierfüßig gelebt haben würde; so können wir mit dem größten Rechte zweifeln, ob ihm die Zweyfüssigkeit nothwendig und von Natur zukomme; und folglich werden wir auch diese Stellung keineswegs in die Zahl der wesentlichen Unterscheidungszeichen, zwischen dem Baue der Menschen und der übrigen Thiere, aufnehmen dürfen.
P. Moscati
Als der schottische Lord seine unbeabsichtigt heterodoxen Thesen in dicken Büchern zu Papier brachte, war ihm entgangen, dass zumindest eine von ihnen im fernen Italien bereits öffentlich vertreten und gedruckt worden war. Im Jahre 1770 hatte nämlich Pietro Moscati, Professor für Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe an der Universität Pavia im «anatomischen Theater» seiner Universität eine Festrede gehalten, in der er seine Einsichten über die wesentlichen körperlichen Unterschiede zwischen Mensch und Tier programmatisch darlegte. In ihrem pathetischen Stil lässt die im selben Jahr erschienene Druckfassung noch immer das feierliche Genre erkennen; doch gleich zu Beginn werden die Zuhörer vor den Einsichten gewarnt, die ihnen der Festredner zuzumuten gedenkt. Die vergleichende Anatomie zwinge uns dazu, Vorurteile aufzugeben, die «der eingebildete menschliche Stolz, und die poetische Philosophie einiger sich selbst Denker nennenden Männer» in die Welt gesetzt hätten: «Männer, die wider die unvernünftigen Thiere eingenommen, ihr microscopisches Talent angewendet haben, eine unendliche Reihe hypothetischer Unterscheidungszeichen, zwischen jenen und dem Menschen, dem bestimmten Könige aller Lebenden, wie sie reden, dem Verbesserer der Natur, der mit ihr zugleich den Erdboden beherschet, aufzusuchen, auszudenken und auszuschmücken.» (1771: 4f.) Der Festredner geht dann die «hypothetischen Unterscheidungszeichen» Zug um Zug durch und da sie sich im Lichte der Wissenschaft allesamt als nur graduelle Differenzen erweisen, kommt er zu dem Resultat, dass es keinen wesentlichen körperlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier gebe.
Am Beginn des Durchgangs steht der «erste und sichtbarlichste körperliche Unterschied» zwischen Mensch und Tier: der aufrechte Gang. Ihm ist nahezu die Hälfte der gesamten Rede gewidmet. Natürlich kann unser Festredner nicht ernsthaft behaupten, dass in der Zahl der Füße und im Körperbau von Menschen und Tieren keine Differenz bestehe; beweisen will er aber «dass der aufrechte Gang des Menschen ein geerbter künstlicher Gang seyn könne». (17) Wir kennen die im 18. Jahrhundert leidenschaftlich geführte Debatte über Natürlichkeit und Künstlichkeit nicht nur des aufrechten Ganges bereits, die Moscati aufgreift, um seine Hörer davon zu überzeugen, dass von einer Natürlichkeit hier keine Rede sein könne. Zu diesem Zweck mobilisiert er die Resultate der Wissenschaften, als deren Vertreter er vor der Festversammlung steht: die Medizin allgemein und die vergleichende Anatomie im Speziellen. Diese Resultate lassen keinen Zweifel daran zu, dass die aufrechte Haltung und Fortbewegung des Menschen gegenüber der vierfüßigen zu drastischen Einbußen an Festigkeit, an Bequemlichkeit und an Gesundheit führt. Als Mediziner weiß Moscati vor allem von den vielfältigen körperlichen Beschwerden zu berichten, die aus ihr resultieren: beginnend mit den üblen Folgen für den mit dem Kopf nach unten im Mutterbauche heranwachsenden Fötus, über die der menschlichen Art eigentümlichen Schwangerschafts- und Geburtsprobleme, bis zu der durch die senkrechte Haltung erforderten höheren Pumpleistung des Herzens mit ihren Schäden für das kardiovaskuläre System, sowie zu schweren psychiatrischen Leiden. «Ich verlange hier keinesweges den Menschen so sehr zu erniedrigen, daß ich ihn für ein von Natur vierfüßiges Thier erklären sollte; sondern ich behaupte nur, daß es noch zweifelhaft sey, ob nicht die horizontale Stellung dem Menschen zuträglicher, als die aufrechte sey; und daß diese, wenn sie ihm auch wegen einiger Ursachen nützlich ist, dennoch
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