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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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dieser Vorstellung wird sich das evolutionäre Denken des 19. und 20. Jahrhunderts schrittweise lösen und ein ganz anderes Konzept erarbeiten. Nach ihm ist naturgeschichtliche Entwicklung die Entstehung von Ordnung aus Zufall; genau das also, was schon der Stoiker Balbus [Kap. 6] für unmöglich gehalten hatten, später dann auch Herder und viele andere.
    Die Erarbeitung dieses Konzepts war ein mühsamer und nicht immer geradliniger Prozess. So war die erste biologische Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts noch deutlich von der Vorstellung der Entfaltung eines Programms geprägt. Jean-Baptiste Lamarck geht in seiner Zoologischen Philosophie davon aus, dass den tierischen Organismen von vornherein ein Entwicklungspotential innewohnt, das sie immer komplexer werden lässt. Die anorganische Natur erzeugt demnach (durch ‹Urzeugung›) ständig primitivste Lebewesen; diese machen winzige Fortschritte vom Einfachen zum Komplizierteren; durch die Akkumulation solcher Fortschrittchen über viele Generationen hinweg vervollkommnen sich die primitiven Lebewesen zu Würmern und Insekten, diese zu Fischen und Reptilien, diese zu Vögeln und Säugetieren und schließlich zu Menschen. Man kann dieses Prinzip der Höherentwicklung auch als eine Verzeitlichung der scala naturae deuten: An die Stelle des traditionellen ‹räumlichen› Bildes von Organismen verschiedener ‹Höhe› tritt die Vorstellung einer zeitlichen Entwicklung der Organismen, die auf der Stufenleiter immer höher klettern. Dieses Prinzip erklärt, warum es Organismen verschiedener Komplexität und verschiedener ‹Vollkommenheit› gibt; aber nicht, warum es auf jeder der Stufen der scala naturae viele verschiedene Arten von Organismen gibt und warum diese in ihren jeweiligen Merkmalen auf ihre jeweilige Umwelt abgestimmt sind. Dies soll durch das zweite Prinzip geleistet werden. Nach ihm zwingen unterschiedliche ökologische Bedingungen den Organismen unterschiedliche «Gewohnheiten» auf, die zu stärkerem oder schwächerem Gebrauch bestimmter Organe führen; dadurch treten Veränderungen der Organe ein, die an die Nachkommen weitergegeben werden. Auf diese Weise kommt in der Generationenfolge eine immer bessere Anpassung an die jeweilige Umwelt zustande. – Dieses Anpassungsprinzip ist nach Lamarck auch für die Ausbildung des aufrechten Ganges verantwortlich. Wenn eine besonders vollkommene Art von Affen aufgrund äußerer Notwendigkeiten die Gewohnheit aufgeben muss, auf Bäumen zu klettern und die Zweige sowohl mit Füßen als auch mit Händen zu fassen; und wenn die Individuen dieser Art über Generationen hinweg gezwungen sind, sich ihrer Füße nur zum Gehen zu bedienen und aufzuhören, ihre Hände wie ihre Füße zu benutzen; dann kann eine habituelle Aufrichtung mit entsprechendem Umbau des Körpers nicht ausbleiben. Und wenn die Individuen dieser Art, «bewegt durch das Bedürfnis zu herrschen und zugleich weit und breit um sich zu sehen, sich anstrengten, aufrecht zu stehen und an dieser Gewohnheit von Generation zu Generation beständig festhielten, so ist es ferner nicht zweifelhaft, daß ihre Füsse unmerklich eine für die aufrechte Haltung geeignete Bildung erlangten, daß ihre Beine Waden bekamen und daß diese Thiere dann nur mühsam auf den Händen und Füssen zugleich gehen konnten.» (1809: 190) Lamarck nimmt nun weiter an, dass diese aufrechte Tierart den ursprünglichen Gebrauch des Kiefers als Beißwaffe und Werkzeug aufgibt und diese nur noch zum Kauen verwendet; dass dies eine Vergrößerung des Gesichtswinkels, eine Verkürzung der Schnauze und eine Senkrechtstellung der Schneidezähne zur Folge hat, also einen Umbau des gesamten Kopfes. Es sei nun unzweifelhaft, dass eine solche vollkommenere Affenart die Herrschaft über die übrigen Arten gewinnen, sich aller passenden Orte auf der Erde bemächtigen, die weniger vollkommenen Arten verdrängen und an ihrer Entwicklung hindern, und auf diese Weise einen beträchtlichen Abstand zwischen sich und ihnen schaffen werde. Im Übrigen komme es bei diesen Tieren infolge der Aufrichtung zu einer Vervollkommnung auch der geistigen Fähigkeiten. Kurz: Der aufrechte Gang wird zum Ausgangspunkt für die dominante Stellung der menschlichen Spezies.
    Als Charles Darwin ein halbes Jahrhundert später sein Konzept von Evolution vorstellte, hatte er sich von zwei Elementen der Lamarckschen Theorie verabschiedet, die er in einem Brief an den Botaniker Joseph Dalton Hooker vom

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