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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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Einbildungskraft, verbunden mit der Geschicklichkeit, für seinen immer in dunkler Ferne gehaltenen Gegenstand durch Gefühle und Empfindungen einzunehmen». (1784: 781) Wir finden, heißt das kurz zusammengefasst, bei Herder Analogien und Assoziationen anstelle von Argumenten; Phantasie und Rhetorik anstelle von Beweisen; Poesie anstelle von Philosophie. Als nicht satisfaktionsfähig rügt Kant vor allem die für das Buch grundlegende Annahme eines die gesamte Natur prägenden Wirkens «organischer Kräfte». Diese Annahme laufe darauf hinaus, das, was man nicht begreife, durch etwas anderes zu erklären, das man noch weniger begreife; oder das, was man in der Kenntnis der Natur nicht finde, «im fruchtbaren Felde der Dichtungskraft» zu suchen. (1784: 791f.) Kants Rezension war ein glatter Verriss, den Herder niemals verwunden hat, und den auch seine Freunde dem Rezensenten bis heute übelnehmen. [33] – Für unseren Zusammenhang ist vor allem von Interesse, was in diesem Streit über den aufrechten Gang gesagt wurde. Zu den zentralen Anliegen der herderschen Ideen gehörte die Rückführung der Sonderstellung des Menschen in der Natur, einschließlich aller seiner intellektuellen, moralischen und kulturellen Fähigkeiten auf den aufrechten Gang. Genau dies war für Kant schlechte Metaphysik; auch dann, wenn Herder sich auf die Naturwissenschaften seiner Zeit stützt und beruft. «Allein bestimmen zu wollen, welche Organisierung des Kopfs, äußerlich in seiner Figur und innerlich in Ansehung seines Gehirns, mit der Anlage zum aufrechten Gange notwendig verbunden sei, noch mehr aber, wie eine bloß auf diesen Zweck gerichtete Organisation den Grund des Vernunftvermögens enthalte, dessen das Tier dadurch teilhaftig wird, das übersteigt offenbar alle menschliche Vernunft, sie mag nun am physiologischen Leitfaden tappen, oder am metaphysischen fliegen wollen.» (1784: 793) Kant hielt den Versuch, Zusammenhänge zwischen der körperlichen Konstitution des Menschen und seiner Vernunft herzustellen prinzipiell für spekulativ; die analogisierende und anthropomorphisierende Darstellungsweise des herderschen Textes bestärkte ihn in dem Urteil, dass solche Versuche philosophisch nicht seriös sein können.
    So harsch haben nicht alle Zeitgenossen geurteilt, obwohl auch andere den Denkansatz Herders für schräg hielten. In einem Brief an den Anatomen Soemmering äußerte sich Georg Forster zunächst enthusiastisch über Herders «herrliches Buch», an dem ihm nur «Kleinigkeiten» missfallen hätten. Diese «Kleinigkeiten» wachsen sich dann allerdings rasch zu schwergewichtigen Einwänden aus, deren erster die anthropomorphisierende Darstellungsweise betrifft, die auch Kant schon moniert hatte. In den Ideen lässt Herder ja allenthalben eine personifizierte Natur auftreten und ihre Pläne wortreich erläutern. Dass dies kein darstellungstechnischer Kunstgriff war und über literarische Gründe hinaus tiefe konzeptionelle Wurzeln hatte, erwähnt Forster nicht. Wenn das Weltgeschehen die Realisierung und Materialisierung eines «Planes» ist, kann man die planende Gott-Natur auch als Person auftreten lassen. – Dann kommt Forster auf den aufrechten Gang zu sprechen. «Ich kann mir nicht vorstellen, daß gerade die aufrechte Stellung des Menschen ein Bild seiner Vollkommenheit und Vorzüge sein sollte. Der aufrecht gehende Mensch hat freilich Vorzüge; allein wer bürgt uns, daß es in den Augen der Natur edler und geistiger ist, den Kopf hoch, als niedrig zu tragen? Das nenne ich aus menschlichen Begriffen analogisirt. Die Natur brachte ein Geschöpf hervor, welches fähig sein sollte Gedanke zu reihen, sie bildete es zweckmäßig dazu, und da kam der Kopf am weitesten von der Erde ab zu stehen. Aber was ist oben und unten in der Natur; was ist edel, was unedel?» (1785: 327) Forster kritisiert Herders Tendenz, menschliche Wertungen in die Natur zu projizieren und dem Raum ein evaluatives Gefälle beizulegen: Die Natur selbst ist nicht mehr oder weniger edel. Dann bringt Forster einen naturtheoretisch zentralen Punkt zur Sprache: «Freilich, wenn der Kopf zugleich auch Organ der Bewegung gewesen wäre, und den ganzen Körper hätte tragen müssen, so kann ich mir unzählige Schwierigkeiten vorstellen, wodurch die Denkkraft gehindert worden wäre zu wirken; also nicht weil’s edler, schöner, göttlicher ist den Kopf in die Höhe zu tragen, sondern weil’s zweckmäßig und nothwendig war, musste es geschehen.» Hier

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