Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
daher trotz tiefreichender Gemeinsamkeiten nicht. Zunächst haben sich bei Herder die Gewichte deutlich in Richtung ‹Mensch› verschoben. Die Ideen präsentieren dem Leser nicht eine Kosmologie, die (auch) eine Anthropologie enthält; sondern eher eine Anthropologie in kosmischen Bezügen. Der thematische Horizont reicht weit über die Stellung des Menschen im Kosmos hinaus und wird in Richtung einer Theorie und Geschichte der Kultur erweitert; die diesbezüglichen Überlegungen nehmen den quantitativ größten Teil der Ideen in Anspruch. Weiter greift Herder die das 18. Jahrhundert mächtig bewegende Idee der Freiheit auf und räumt ihr einen Stellenwert ein, der in den klassischen kosmologischen Theorien undenkbar gewesen wäre. Denn Freiheit in einem starken Sinn kann es schwerlich geben, wenn dem Menschen ein fester Platz in der Weltordnung zugewiesen ist, die zugleich eine ihm entsprechende Lebensweise vorschreibt. Herder ist zu sehr protestantischer Christ, um sich damit abzufinden. Für uns ist dabei relevant, dass er die von ihm nachdrücklich behauptete Freiheit des Menschen in einen engen Zusammenhang mit dem aufrechten Gang bringt. «Das Tier ist nur ein gebückter Sklave, wenngleich einige edlere derselben ihr Haupt emporheben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele muss notdürftigen Trieben dienen und in diesem Dienst sich erst zum eigenen Gebrauch der Sinne und Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage.» (135) Eine dritte Differenz zur klassischen Kosmologie besteht schließlich darin, dass er die Einheit und Ordnung des Kosmos nicht mehr als einen nur räumlich strukturierten, statischen Zustand auffasst, sondern als einen zeitlich strukturierten Prozess. «Sind also die Zeiten nicht geordnet, wie die Räume geordnet sind?» (13) fragt er, eine positive Antwort nahelegend. Die Ordnung der Welt ist also nicht zuletzt eine genetische Ordnung: Sie ist der zeitliche Vollzug eines Planes oder Programms, in dem zunächst alles Naturgeschehen auf den Menschen zuläuft; in dem dieser die Geschichte der Natur dann in eine Kulturgeschichte überführt und in dem das irdische Leben den Menschen an die Schwelle eines «künftigen Zustandes» in einer anderen Welt führt. Das christliche Jenseitsversprechen erscheint als bloße Verlängerung eines zunächst natur- dann kulturgeschichtlichen Prozesses, den Herder in seiner Theorie darstellt. Beglaubigt wird das Versprechen in den Ideen aber nicht durch die biblische Offenbarung, sondern mit einer Analogie: «Wie also die Blume dastand und in aufgerichteter Gestalt das Reich der unterirdischen, noch unbelebten Schöpfung schloss, um sich im Gebiet der Sonne des ersten Lebens zu freuen, so stehet über allen zur Erde Gebückten der Mensch wieder aufrecht da. Mit erhabenem Blick und aufgehobnen Händen stehet er da, als Sohn des Hauses den Ruf seines Vaters erwartend.» (184) Mit diesen Worten endet der erste Teil der Ideen; in ihnen wird jene Hinweisfunktion auf das himmlische Schicksal des Menschen erneuert, die schon die Kirchenväter an der aufgerichteten Gestalt des Menschen so geschätzt hatten.
Herders ehrgeizige Gesamtschau der «Geschichte der Menschheit» fand unter seinen Zeitgenossen viele Bewunderer, stieß aber auch auf Unverständnis und Kritik. Besonderes Aufsehen erregte eine noch im Erscheinungsjahr anonym publizierte Rezension zum ersten Teil der Ideen, als deren Verfasser umgehend Herders vormaliger philosophischer Lehrer Immanuel Kant ruchbar wurde. Kant kritisierte Herders Ansatz auf einer sehr grundsätzlichen Ebene. Man finde hier unter dem Titel einer Philosophie der Geschichte der Menschheit etwas ganz anderes vor, «als was man gewöhnlich unter diesem Namen versteht: nicht etwa eine logische Pünktlichkeit in Bestimmung der Begriffe, oder sorgfältige Unterscheidung und Bewährung der Grundsätze, sondern ein sich nicht lange verweilender viel umfassender Blick, eine in Auffindung von Analogien fertige Sagazität, im Gebrauche derselben aber kühne
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