Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
11. Januar 1844 benennt: «Der Himmel bewahre mich vor dem Lamarckschen Unsinn einer ‹Tendenz zum Fortschritt› der ‹Anpassung kraft des langsam wirkenden Willens der Tiere› etc.! Doch die Schlußfolgerungen, zu denen ich gelangt bin, unterscheiden sich nicht sehr von den seinen, wohl aber die Mittel, welche der Veränderung zugrunde liegen.» Darwin verwirft also zum einen das orthogenetische Prinzip einer vorgezeichneten Tendenz zur Höherentwicklung; und zum anderen das gesamte psychologisierende Vokabular («Willen», «Bedürfnis», «Gewohnheit») Lamarcks und damit die Idee, dass die Ursachen der Veränderungen in den Organismen selbst liegen. Die Ursachen werden stattdessen nach außen, in die Umwelt der Lebewesen verlagert. Die Umwelt ‹entscheidet› darüber, welche Individuen ihr am besten angepasst sind und begünstigt diese. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die Lebewesen derselben biologischen Art in relevanten Merkmalen verschieden sind; dass einige von ihnen Merkmale besitzen, die ihnen einen Vorteil gegenüber den anderen Individuen sichern. Auf längere Sicht werden diese vorteilhaften Varianten mehr Nachkommen hinterlassen als andere, sodass ihr Anteil an der betreffenden Art rasch anwächst. ‹Evolution› ist für Darwin also nicht die kontinuierliche Transformation individueller Organismen, sondern eine Veränderung von Arten. Da die besser angepassten Varianten eine größere Anzahl von Nachkommen hinterlassen als die weniger gut angepassten, verändert sich auf lange Sicht die Zusammensetzung der Population zugunsten der ersteren. Darwin behält also nur das für Lamarck sekundäre Prinzip der Anpassung bei; deutet den zugrunde liegenden Mechanismus aber vollkommen neu. Anpassung ist für ihn ein Produkt der ‹natürlichen Selektion›. – In seiner 1871 erschienenen Abstammung des Menschen stellt Darwin die Evolution des aufrechten Ganges dar und wählt dabei ein ähnliches Szenario wie es Lamarck postuliert hatte. Angenommen wird eine Primatenart, die ihren Lebensraum von den Bäumen auf den Boden verlagert. Dann aber geht es bei Darwin anders weiter. Einige dieser Primaten beginnen sich gelegentlich aufzurichten und nehmen diese Fortbewegungsweise in der Folge dauerhaft an, nicht weil sie ein entsprechendes Bedürfnis haben, sondern weil dies mit umweltbedingten Vorteilen verbunden ist. Zentral ist dafür die Befreiung der vorderen Gliedmaßen von der Aufgabe der Fortbewegung; sie ermöglicht den Gebrauch von Waffen und Werkzeugen und befähigt die aufgerichteten Individuen, «sich mit Steinen und Keulen zu verteidigen, oder ihre Beute anzugreifen, oder auf andere Weise Nahrung zu erlangen. Die am besten gebauten Individuen werden im Laufe der Zeit den meisten Erfolg gehabt haben und in größerer Zahl am Leben geblieben sein.» (1871: 60) Unter bestimmten Umweltbedingungen verschafft die aufrechte Haltung also denjenigen, die sie erworben haben, einen biologischen Vorteil gegenüber ihren vierfüßigen Konkurrenten; sie hinterlassen in der Generationenfolge mehr Nachkommen; schließlich besteht die Population nur noch aus aufrechten Individuen.
Das alles setzte natürlich voraus, dass die traditionelle christliche Vorstellung einer separaten Erschaffung des Menschen durch Gott von der Vorstellung einer naturgeschichtlichen Abstammung des Menschen von affenähnlichen Tieren abgelöst wurde. Ein starkes Argument dafür gaben die zahlreichen Übereinstimmungen zwischen dem Körperbau der Tiere und des Menschen ab, die von der vergleichenden Anatomie seit dem 17. Jahrhundert bis ins Detail beschrieben worden waren. Darwin und seine Anhänger wiesen immer wieder auf diese Übereinstimmungen hin. Wenn sich alle Differenzen zwischen Mensch und Tier in bloß quantitative Unterschiede auflösen sollten, so konnte der aufrechte Gang schwerlich eine Ausnahme machen. Mit erkennbarer Lust am Abräumen von Vorurteilen machte daher Ernst Haeckel darauf aufmerksam, dass auch andere Primaten sich gelegentlich aufrichten: «Früher pries man als besondere Auszeichnung des Menschen den aufrechten Gang; jetzt wissen wir, dass derselbe auch vom Gorilla und Schimpanse, vom Orang und vorzüglich vom Gibbon zeitweise eingenommen werden kann.» (1898a: 369) Diese Argumentationsstrategie durfte aber nicht zu weit getrieben werden, wenn die allzu offensichtlichen Unterschiede nicht geleugnet und die biologische Klassifikation nicht ad absurdum geführt werden sollten. Die biologischen
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