Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Artgrenzen sollten durchlässig gemacht, aber nicht eingeebnet werden. In der Abstammung des Menschen geht es Darwin vor allem darum, die für die Mensch-Tier-Unterscheidung seit jeher fundamentalen «geistigen Kräfte» aus der Biologie herauszukomplimentieren. Diese geistigen Kräfte und ihr materielles Substrat, das Gehirn, sind nach Darwin für die biologische Klassifikation von verhältnismäßig geringer Bedeutung. Zwar unterscheiden sich Menschen von Tieren durch ihre Intelligenz, sowie durch die Größe und den Bau des Schädels; fast alle anderen Unterschiede zwischen ihnen beruhen aber auf ihren Lebensgewohnheiten und stehen mit der aufrechten Haltung des Menschen in Beziehung, «so der Bau seiner Hand, seines Fußes und seines Beckens, die Krümmung seines Rückgrats und die Haltung seines Kopfes.» (1871: 193f.) Damit wird der aufrechte Gang zum zentralen Klassifikationsmerkmal, auf dessen Basis wir biologisch zwischen ‹Mensch› und ‹Tier› zu unterscheiden haben. Darwin wendet sich gegen die von Blumenbach und vielen anderen vorgeschlagene Klassifikation des Menschen als ‹Bimane› und rehabilitiert ausdrücklich die Linnésche Nomenklatur: Der Mensch ist von Haus aus ein ‹Primat› und seine Differenzen von den übrigen Primaten hängen weitgehend vom aufrechten Gang ab. Aus dieser klassifikatorischen Entscheidung ergeben sich nun Konsequenzen auf der phylogenetischen Ebene. Denn wenn der aufrechte Gang das zentrale klassifikatorische Merkmal ist, das Mensch und Tier unterscheidet, dann markiert seine Entstehung zugleich auch die Wegscheide, an der die Geschichte der Primaten sich in eine äffische und eine menschliche Linie verzweigt. Er bildet den historischen Knackpunkt, an dem aus Tieren Menschen zu werden begannen. – Dies gilt, wie Darwin selbst hervorhebt, auf der anatomischen Ebene; denn die Aufrichtung erzwang einen weitgehenden Umbau des Körpers. Es gilt zweitens auf der ethologischen Ebene; denn die Aufrichtung ermöglichte völlig neue Formen des Verhaltens, insbesondere natürlich des technischen Handelns, aber auch des Sexualverhaltens. Und es gilt drittens auf der intellektuellen Ebene; denn die Aufrichtung steht, wie sich noch zeigen wird, in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, darunter auch seiner Sprache. Im vierten Teil dieses Buches wird darauf zurückzukommen sein.
Es scheint keine glänzendere Bestätigung für Herders Ideen geben zu können, als die Diagnose, dass der Mensch anatomisch, ethologisch und intellektuell das Produkt seiner Aufrichtung ist; aber auch keinen größeren Kontrast hinsichtlich des Zustandekommens dieser Aufrichtung. Die These einer Transformation der vierfüßigen Tiere zu aufrechten Menschen hatte er ja vehement zurückgewiesen. Als eine komplette Absurdität schließlich wären ihm die von der Evolutionstheorie postulierten ‹Mechanismen› des organischen Wandels, einschließlich des Übergangs von der Vier- zur Zweifüßigkeit erschienen. Denn nach dieser Theorie vollzieht sich Evolution eben nicht nach Art der Ontogenese, als Entwicklung einer gegebenen Anlage, oder als Realisierung eines Plans; sondern als ein ungerichteter Prozess, in dem der Zufall eine konstitutive Rolle spielt. Die Individuen einer Art variieren ‹zufällig› in ihren biologisch relevanten Eigenschaften; und einige dieser Varianten erweisen sich ‹zufällig› als vorteilhaft unter den jeweiligen ökologischen Bedingungen und ermöglichen ihren Besitzern einen überdurchschnittlichen Fortpflanzungserfolg. Die Pointe besteht darin, dass es zwischen diesen beiden Vorgängen keine Koordination gibt: Variation und Selektion sind entkoppelt. – Für unser Thema ergeben sich daraus mindestens drei wichtige Konsequenzen. Erstens gelten für den Menschen keine evolutionären Sonderbedingungen. Die Evolution ist kein Schauspiel, das für den Menschen inszeniert wird und er steht nicht in ihrem Mittelpunkt. Er ist Darsteller in diesem Schauspiel; überdies nur einer unter vielen anderen; und derselben Regie durch evolutionäre ‹Mechanismen› unterworfen wie diese. Zweitens hat sich der aufrechte Gang wie jedes beliebige andere biologische Merkmal herausgebildet. Er war nicht von jeher im «Plan der Natur» vorgesehen, sondern entstand ‹zufällig› und setzte sich durch, weil er sich unter bestimmten Umweltbedingungen als vorteilhaft erwies. Er hätte auch nicht entstehen oder sich nicht durchsetzen können; dann gäbe
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