Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
wird deutlich, dass Forster den von ihm zunächst gelobten Herder als einen Autor liest, der die Bedeutung des aufrechten Ganges aus dessen evaluativer, insbesondere ästhetischer Überlegenheit ableitet, statt aus seinen biologisch funktionalen Vorzügen. Forster markiert mit dieser knappen Bemerkung eine Wasserscheide auf die später noch zurückzukommen sein wird. Sollen ästhetische oder kul turelle Wertschätzungen in unsere Erklärungen des aufrechten Ganges einfließen dürfen oder soll allein sein praktischer empirischer Nutzen zählen? Man wird schwer bestreiten können, dass Herder auch funktionale Argumente vorzubringen versucht hat; dass sie Forster entgangen sind, kann als ein Indiz für die bloß periphere Rolle angesehen werden, die ihnen in Herders Theoriegebäude zukommt.
Abb. 8: Zügelpinguin, gezeichnet 1773 von Georg Forster während seiner Entdeckungsreise mit James Cook
Schließlich führt Forster dann noch einen Vogel an, dem auch wir in diesem Buch schon begegnet sind. Im Dezember 1772 war er auf seiner berühmten Weltreise unter dem Kommando James Cooks im Südpolarmeer auf Pinguine gestoßen; sechs verschiedene Arten von ihnen sollte er im Verlauf der weiteren Reise malen. Dass der Mensch seine Intelligenz dem aufrechten Gang verdanken sollte, will ihm vor dem Hintergrund dieser Erfahrung einfach nicht einleuchten: «Tragen denn nicht alle Vögel den Kopf in die Höhe; am meisten die allerdummsten, die Pinguins?» Herder, so fährt er fort, gehe «mit seiner aufrechten Stellung des Menschen auf der einen Seite eben so sehr zu weit, als Moscati auf der andern, welcher haben wollte, daß wir auf allen Vieren laufen sollten.» Wir freuen uns natürlich über die Wiederbegegnung mit einem Vogel, der in der Neuzeit offenbar ein ebenso durchschlagendes Argument gegen allzu emphatische Deutungen des aufrechten Ganges bereitstellt, wie es der gerupfte Hahn gegen Platons leichtsinnige Definition getan hatte.
21. Evolution der Bipedie
Früher pries man als besondere Auszeichnung des Menschen den aufrechten Gang; jetzt wissen wir, dass derselbe auch vom Gorilla und Schimpanse, vom Orang und vorzüglich vom Gibbon zeitweise eingenommen werden kann.
E. Haeckel
Einer der schärfsten Vorwürfe Kants an Herder hatte sich auf dessen ubiquitäre Mobilisierung von «organischen Kräften» bezogen, die eine Entwicklung in der unorganischen, der organischen und natürlich auch in der menschlichen Welt bewirken sollten. Dieser Vorwurf ist merkwürdig, weil Kant selbst zu den ersten gehört hatte, die eine naturhistorische Perspektive in die Astrophysik und damit in die Naturwissenschaften überhaupt eingeführt hatten. Auf dem Feld der organischen Natur wollte er davon aber nichts wissen. Die These einer Verwandtschaft zwischen den Arten oder einer gemeinsamen Abstammung «würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt». Solche Ideen lägen ganz außerhalb der empirischen Wissenschaft und gehörten «zur bloß spekulativen Philosophie», in der sie im Übrigen «große Verwüstungen unter den angenommenen Begriffen anrichten» würden, wenn man sie akzeptierte. (1784: 792f.) Die Sorge Kants bezieht sich, wie oben bereits zitiert, nicht zuletzt auf Herders Behauptung eines Zusammenhangs zwischen dem Vernunftvermögen und der physischen Organisation, insbesondere dem aufrechten Gang. – Aus heutiger Sicht könnte Kants Kritik als ein grandioser Fehlschlag erscheinen, da sich das evolutionäre Denken in den letzten anderthalb Jahrhunderten durchgesetzt hat und namentlich auch die Entwicklung intellektueller Fähigkeiten aus organischen Voraussetzungen inzwischen als eine schlichte Tatsache angesehen wird. Ungeteilte Freude hätte Herder angesichts dieses Triumphes über seinen früheren Lehrer und schließlichen Kritiker aber wohl nicht empfinden können. Denn die späteren Evolutionstheorien beruhen auf Voraussetzungen und führen zu Schlussfolgerungen, die seinen zuwiderlaufen. Herders Vorstellung von ‹Geschichte› gehört in jene Gruppe von naturhistorischen Theorien, die ‹Entwicklung› als die Ausfaltung eines Keimes oder einer Anlage bzw. als den Vollzug eines (göttlichen) Planes oder eines Programms auffassen. Das ‹Prinzip› der Entwicklung ist also immer schon gegeben: entweder in der Natur selbst, wie wir es von Samenkörnern kennen, die sich zu einer fertigen Pflanze entwickeln; oder in der Regie einer steuernden Instanz. [34] Von genau
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