Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
es heute keine Menschen wie wir es sind. Drittens prämiiert die natürliche Selektion Merkmale, die biologisch nützlich sind; Merkmale also, die den Fortpflanzungserfolg unter gegebenen Umweltbedingungen vergrößern. Zwar hatte noch Lamarck die Evolution als einen Prozess der ‹Vervollkommnung› der Organismen angesehen; und auch etliche Anhänger Darwins konnten der orthogenetischen Versuchung nicht widerstehen. Der Mensch erscheint als der Gipfel dieses Vervollkommnungsprozesses, als Krone der organischen Welt. Darwins Theorie bietet keinen Spielraum für ein solches Klopfen auf die eigene Schulter. Die ‹inhärenten› Qualitäten eines Merkmals sind biologisch irrelevant. Auch der aufrechte Gang hat sich daher nicht wegen solcher Qualitäten durchgesetzt, sondern weil er die Lösung eines irgendwann kontingenterweise aufgetretenen Problems bot. Worin dieses Problem bestand, ist bis heute allerdings unklar.
Nach Darwin selbst war der «freie Gebrauch der Hände und Arme» sowohl Ursache wie Resultat der Aufrichtung. (1871: 62) In dieser These sind ihm viele Evolutionstheoretiker bis heute gefolgt, ebenso wie in der These, dass klimabedingte Veränderungen die Aufrichtung ausgelöst haben: Sie führten zu einem Rückgang des Baumbestandes und zwangen die bis dahin baumlebenden Affen zu einem Leben auf dem Boden; die vorderen Gliedmaßen wurden nun nicht mehr zum Klettern benötigt und konnten für andere Zwecke eingesetzt werden. Alle diese Annahmen sind spekulativ. Lamarck, Darwin und seinen unmittelbaren Nachfolgern standen nur sehr spärliche Fossilien und andere Daten zur Verfügung. Und obwohl spektakuläre Fossilfunde die empirische Basis der Paläanthropologie in den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten deutlich verbreitert haben, sind auch die heutigen Theorien fragmentarisch und hypothetisch geblieben. [35] Dies betrifft zum einen die Frage nach dem Szenario, unter dem sich der Übergang zur Bipedie vollzog. Wo und wie lebten die (vormenschlichen) Primaten und welche Fortbewegungsarten praktizierten sie? Was waren die auslösenden Faktoren für den Übergang zur Bipedie? Zum anderen betrifft es die Frage nach ihren adaptiven Vorteilen. Gegenwärtig werden zehn bis zwanzig verschiedene Erklärungsansätze diskutiert, unter denen vier Hauptgruppen unterschieden werden können. (1) Die erste hebt die Vorteile hervor, die aus der Befreiung der vorderen Extremitäten von der Fortbewegung erwachsen. Anstelle des Werkzeuggebrauchs wird heute aber eher das Tragen von Nahrung über größere Entfernungen erwogen. Nach einer anderen Hypothese richteten sich zunächst die weiblichen Tiere auf, um ihre Jungen tragen zu können; denn als die Vor-Menschen ihr Fell zu verlieren begannen, konnten sich die Jungen nicht mehr am Haarkleid der Mutter selbst festhalten, wie es bei anderen Primaten bis heute der Fall ist. (2) Die aufrechte Haltung könnte weiterhin die Nahrungsbeschaffung unter bestimmten Randbedingungen erleichtert haben, z.B. indem sie es ermöglichte, Früchte von Bäumen zu sammeln. (3) Angeführt werden drittens unterschiedliche Vorteile im sozialen Verhalten. Auch bei anderen Primaten wird die Aufrichtung als Drohgebärde eingesetzt; sie verschafft Vorteile im Kampf mit Artgenossen. Sie könnte auch der sexuellen Schaustellung gedient haben oder auf andere Weise mit Änderungen der reproduktiven Strategie unserer Vorfahren verbunden gewesen sein. (4) Schließlich könnte die aufrechte Haltung mit energetischen Vorteilen verknüpft gewesen sein; sei es, dass sie Energieeinsparungen bei der Fortbewegung ermöglicht hat, oder sei es, dass durch die aufrechte Haltung die Sonneneinstrahlung verringert und Überhitzung vermieden werden konnte. – Nicht alle diese Erklärungen sind alternativ. Gut vorstellbar ist daher, dass wir unsere Aufrichtung einer Kombination mehrerer dieser Faktoren verdanken. Sicherheit besteht allerdings nicht. Henke und Rothe halten in ihrem Lehrbuch lakonisch fest, «dass wir bis heute nicht wissen, warum sich Bipedie entwickelt hat und warum nur in der menschlichen Stammlinie». (1999: 83) Gegenstand aller dieser Erklärungen sind historische Prozesse, die mehrere Millionen Jahre zurückliegen; sie können nicht mehr beobachtet und auch nicht experimentell wiederholt werden; die fossilen Funde sind lückenhaft und werden es bleiben. Mit einer restlosen Aufklärung der Randbedingungen und Ursachen des Übergangs zur Bipedie ist daher auch in Zukunft kaum zu rechnen.
Solche
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