Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
andere überragt; und gibt mit dem Verweis auf die aufrechte Haltung selbst die Antwort. Dabei wird unterstellt, dass diese ästhetische Qualität intrinsisch und objektiv ist: dass sie der aufrechten Haltung unabhängig von allen sonstigen Bezügen und unabhängig von menschlicher Bewertung zukommt. Eine solche Sicht der Dinge erscheint nun als ästhetisch (und ganz allgemein: werttheoretisch) naiv. Hören wir noch einmal Lotze: «Gibt es eine ausdrucksvolle Schönheit der Gestalten, so liegt sie immer darin, daß wir in der Form zunächst die durch sie mögliche Handlung erkennen …». (1858: 96) Die klassische Deutungsrichtung wird also umgekehrt. Seit Platon war der Mensch aufrecht, weil dies die objektiv und ‹inhärent› beste und schönste Haltung gewesen war; jetzt erscheint uns die senkrechte Haltung als gut und schön, insofern wir in ihr die durch sie ermöglichten Handlungen wahrnehmen. Aus der objektiven Schönheit ist eine subjektive geworden; aus der intrinsischen Qualität eine instrumentelle. Demgegenüber hatten die Brüder Weber den menschlichen Bewegungen eine Art objektiver Schönheit zugebilligt; waren damit aber durchaus nicht zu klassischen Ansichten zurückgekehrt. Für sie ergab sich die Schönheit des menschlichen Gangs aus dem Prinzip der geringsten Muskelanstrengung: Sie ist «eine nothwendige Folge von der verhältnismässigen Ruhe des Körpers und der verhältnismässig geringen Anstrengung desselben bei diesen Bewegungen», sowie der «Sicherheit, mit der sie allmählig und ordnungsgmässig ausgeführt werden». (1836: VII) So weit die ästhetische Dimension des aufrechten Ganges eine objektive Grundlage hat, ist sie das Resultat energetischer Optimierung. Das ist ein recht prosaischer Schönheitsbegriff: Schönheit ist wahrgenommene Ökonomie.
Wir haben in den vorangegangenen Kapiteln verfolgt, wie die Idee einer kosmologischen Ordnung durch das Bewusstsein ubiquitärer Kontingenz verdrängt wurde und wie sich im Zusammenhang damit die Selbstdeutung des Menschen, seine Körperhaltung eingeschlossen, veränderte. Nicht zuletzt spitzt sich in einer kontingenten Welt, die für den Menschen so wenig vorsorgt wie für alle anderen Wesen, die Aufgabe der Selbstbehauptung und Selbsterhaltung zu. Darwins Theorie bekräftigt dies vordergründig durch die Betonung des «struggle for existence», den alle Lebewesen führen müssen; interessanter ist aber eine ihrer hintergründigen Implikationen. Wenn die Natur kein planvoller Prozess ist, kann der aufrechte Gang nicht mehr als ein Geschenk oder Privileg angesehen werden, das wir ihr verdanken. Die Aufrichtung wird nun als eine Leistung aufgefasst, die der Mensch selbst vollbringt. Die klassische Deutung hatte eine solche Selbstaufrichtung schon deshalb nicht denken können, weil der Mensch (wie alle anderen natürlichen Arten) nach ihr fix und fertig erschaffen war und unveränderlich fortexistiert. Wenn er aufrecht war, seitdem es ihn gibt, konnte er sich nicht selbst aufgerichtet haben. In einer evolutionären Perspektive hingegen geht der Mensch nicht von Anfang an aufrecht, sondern erwirbt dieses Merkmal im Laufe der Zeit; und er erwirbt es auch dann aus eigener Kraft oder Anstrengung, wenn dies nicht intentional geschah und wenn ihn äußere Faktoren dazu getrieben haben. Spekulativ angedeutet hatte sich diese Idee bereits bei Charles de Bovelles; deutlich empirischer wird sie bei Moscati und Lord Monboddo vorgetragen; bis sie sich bei Lamarck und Darwin als Konsequenz biologischer Theorien ergibt. Wo zuvor alles von Gott oder von der Natur eingefädelt worden war, muss nun der Mensch selbst aktiv werden.
Fühlbar wird das an der Anstrengung, die mit der Aufrichtung verbunden ist. Seit dem 18. Jahrhundert mehren sich die Hinweise darauf, dass schon das aufrechte Stehen ein mühsames Geschäft ist. Wenn Herder gelegentlich bemerkt: «Kein toter Körper kann aufrecht stehen und nur durch eine zahllose Menge angestrengter Tätigkeiten wird unser künstlicher Stand und Gang möglich», (1784: 103) so nimmt er damit vorweg, was William Paley in dem eingangs des dritten Teils angeführten langen Zitat ausführlicher beschreibt; und worauf auch Hegel mit seiner Betonung des Willens hinaus will: «Der organischen Natürlichkeit nach würde er umfallen, es gehört also dazu, dass die physiologische Möglichkeit mit dem Willen verbunden sei.» (1822: 98) Zum einen ist eine ununterbrochene Aktivität zahlreicher Muskeln notwendig, um den
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