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Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
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menschlichen Körper gegen die Kräfte der Gravitation aufrecht zu halten. Gesteuert wird diese Muskelaktivität durch eine Reihe von Reflexen. [40] Lässt diese Aktivität im Schlaf oder krankheitsbedingt nach, vermag der ansonsten unveränderte Körper sich nicht länger aufrecht zu halten. Zum anderen ist ein langer und schmaler Körper, der nur auf einer kleinen Fläche Kontakt mit dem Boden hat, notwendigerweise instabil. Sein Gleichgewicht muss durch einen kontinuierlichen aktiven Störungsausgleich aufrechterhalten werden. Genau diese Aktivität unterscheidet einen aufrecht stehenden Menschen von anderen senkrechten Objekten: «Stehen wie eine Statue, wie ein Baum, ist im Pflanzenreich realisierbar, wie auch das rein statische Stehen wie ein Schilfrohr, das sich im Winde bewegt, dort verwirklicht ist. Wenn wir sagen eine Pflanze stehe, so müssen wir hinzufügen, daß sie keine echte Haltung habe, sich nicht aufrecht erhalte wie ein Tier oder ein Mensch.» (Buytendijk 1956: 89) – Es liegt auf der Hand, dass die Schwierigkeiten nicht geringer werden, wenn dieses instabile Objekt sich zu bewegen beginnt. Wie anspruchsvoll die dabei auftretenden Stabilitätsprobleme sind, haben wir oben [Kap. 16] bei den Robotern gesehen: Erforderlich ist eine außerordentlich rasche Registrierung auftretender Gleichgewichtsstörungen und eine ebenso rasche Gegensteuerung. Hinzu kommt der durch die Fortbewegung erhöhte Energieaufwand. Die Wissenschaften haben es sich nicht nehmen lassen, die dafür nötige Anstrengung auch quantitativ zu erfassen. In Untersuchungen, die Adolf Basler bereits in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in China durchgeführt hat, konnte ermittelt werden, dass der menschliche Körper beim langsamen Gehen auf einer ebenen Strecke von 1 km Länge um 52,12 m gehoben wird; dass sich diese Hebung in einer Stunde auf 228,48 m summiert; dass sich bei einem Körpergewicht von 50 kg der dazu notwendige Energieverbrauch auf 26,8 Kalorien beläuft; und dass ein Viertel des Leistungszuwachses für die Hebung des Körperschwerpunktes verbraucht wird. [41] Wie wir sehen, ist Arbeit geworden, was in den Jahrtausenden zuvor ein Privileg gewesen war.
    Leicht beobachtbar ist diese Arbeit bei kleinen Kindern. Im Unterschied zur phylogenetischen Aufrichtung gehört die ontogenetische zu jenen alltäglich registrierbaren Vorgängen. Sie kann niemandem entgehen und ist daher auch in der antiken Literatur gelegentlich beschrieben worden. Bei Ovid lesen wir: «Zur Welt gebracht, lag das Kind kraftlos da; bald aber bewegte es sich, ganz wie die Tiere, auf allen vier Füßen fort, bis es allmählich zitternd und noch mit schwachen Knien aufrecht stand.» (XV,221–222) Thema der ganzen Passage ist aber nicht die Körperhaltung des Menschen, sondern der allenthalben in der Welt anzutreffende Wandel. Die Aufrichtung des Menschen wird als einprägsames Beispiel dieses Wandels angesprochen; und folglich nicht als Selbst aufrichtung, sondern als eine Veränderung, die ‹von selbst› eintritt: als ‹Metamorphose›. Die ontogenetische Aufrichtung wird in der Regel [42] als die Aneignung eines Geschenks beschrieben, das der Gattung zuteil wurde. Nach Cicero ( De fin.  V,42) und Seneca ( Epist. 121,8) besitzt bereits das Kind ein Bewusstsein seiner Bestimmung zum aufrechten Gang. Das Gehen auf zwei Beinen mag ihm zunächst schwerfallen, doch stellt es keine wirklich eigene Leistung dar, da es nur dem Ruf der Natur folgt. Betont werden das Ziel des Prozesses und die Vorgegebenheit dieses Ziels; die Aktivität, die zur Erreichung des Ziels notwendig ist, kommt kaum in den Blick. – Die ontogenetische Aufrichtung des Menschen wurde also nicht einfach nur zufällig übersehen. Ihre theoretische Marginalisierung war das Resultat eines systematischen, in den Theorierahmen eingebauten, blinden Flecks, der erst mit dem Niedergang des Finalismus zu verblassen begann. Die schlichte Tatsache, dass der aufrechte Gang gelernt werden muss, konnte nun Beachtung finden: «Alle Kinder gehen zunächst auf allen Vieren und brauchen unser Beispiel und unseren Unterricht, um es zu lernen, sich aufrecht zu halten.» (Rousseau 1755: 279) [43] An die Stelle der kosmologischen Ordnung sind hier die Menschen getreten und dies in einer doppelten Funktion: (1) als diejenigen, die sich aufrichten, die Kinder also; und (2) als diejenigen, die dazu ermuntern und anleiten, die Eltern und Erzieher.
    Damit kommt eine soziale Dimension ins Spiel, die

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