Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
den klassischen Theorien unbekannt gewesen war. Die Selbstaufrichtung ist keine bloß individuelle Leistung. Kleinkinder richten sich zwar selbst auf, aber nicht ohne den Einfluss ihrer sozialen Umgebung. Die Auseinandersetzungen mit dem Thema ‹wilde Kinder›, die im 18. Jahrhundert so obsessiv geführt worden waren, hatten diesen Punkt ins theoretische Bewusstsein gehoben und sie hatten zugleich die Frage aufgeworfen, ob der aufrechte Gang ‹natürlich› sei. Für einen klassischen Denker wie Aristoteles war diese Frage auf der Basis seines teleologischen Naturbegriffs immer schon beantwortet: Der Mensch ist von der Natur zum aufrechten Gang bestimmt. Im 17. Jahrhundert überzeugt diese Antwort nicht mehr; die Frage wird jetzt zu einem echten Problem und zum Gegenstand langwieriger Kontroversen. Wenn Moscati und Burnet (auf der Basis unterschiedlicher Annahmen) die Natürlichkeit der aufrechten Haltung geradewegs bestreiten und sie zu einer ‹Gewohnheit› erklären, so verschieben sie damit die kausalen Faktoren von der Natur in die Kultur. Denn ‹Gewohnheit› bezeichnet hier nicht bloß ein psychologisches oder statistisches Faktum, sondern ein soziales Phänomen, das in heutigen Termini vielleicht als ‹Institution› wiedergegeben werden kann. – Eine ähnliche Transformation von Natur in Kultur nimmt auch Georg Friedrich Wilhelm Hegel vor. In einer Anmerkung zu § 410 seiner Enzyklopädie rechnet er den aufrechten Gang unter die menschlichen «Gewohnheiten», die für ihn eng mit dem Willen verknüpft sind: «Die Form der Gewohnheit umfaßt alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes; die äußerlichste, die räumliche Bestimmung des Individuums, daß es aufrecht steht, ist durch seinen Willen zur Gewohnheit gemacht, eine unmittelbare, bewußtlose Stellung, die immer Sache seines fortdauernden Willens bleibt; der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur solang, als er es bewußtlos will.» In der Ästhetik kommt Hegel im Zusammenhang mit der Skulptur auf den aufrechten Gang zu sprechen. «Der Mensch kann zwar auch wie die Tiere auf vieren gehen, und die Kinder tun es in der Tat; so bald aber das Bewusstsein zu erwachen beginnt, reißt der Mensch sich von dem tierischen Gebundensein an den Boden los und steht frei für sich aufrecht da. Dies Stehen ist ein Wollen, denn hören wir auf, stehen zu wollen, so wird unser Körper zusammensinken und zu Boden fallen. Dadurch schon hat die aufrechte Stellung einen geistigen Ausdruck, insofern das Sichaufheben vom Boden mit dem Willen und deshalb Geistigem und Innerem in Zusammenhang bleibt; wie man denn auch von einem in sich freien und selbstständigen Menschen, der seine Gesinnungen, Ansichten, Vorsätze und Zwecke nicht von anderen abhängig macht, zu sagen gewohnt ist, daß er sich auf seine eigenen Füße stellt.» (II, 121) In der von Karl Gustav Julius von Griesheim angefertigten Nachschrift einer Vorlesung Hegels über den «Subjektiven Geist» aus dem Jahre 1825 wird der entscheidende Gedanke klar formuliert: «Die Hauptsache ist bei der langsamen Entwickelung daß der Mensch alles selbst hervorbringen muß was zu seiner Entwickelung gehört, es muß aus ihm selbst gesetzt sein, Gehen, Stehen pp muß er selbst lernen, der Mensch steht nur weil er will, es ist fortdauernder, gewohnter Willen, ist Gewohnheit die Willen ist, so tritt gleich das geistige bei der Entwickelung ein, nicht bloß natürliche Entwickelung ist es, die Reflexion, der Wille ist dabei gegenwärtig.» (249) Hier spricht sich das Selbstbewusstsein des modernen Menschen unverblümt aus, der widerwillig geworden ist, Vorgaben der Natur, des Schicksals oder Gottes einfach hinzunehmen; und der umgekehrt möglichst viele Elemente seines Daseins auf seine eigene Kappe zu nehmen gewillt ist. Theoretisch wie auch praktisch macht er sich mehr und mehr zum Subjekt seiner Lebensumstände.
Schon etliche Jahre zuvor hatte Johann Gottlieb Fichte diesen Subjektivitätsgedanken in einer für sein Denken typischen Zuspitzung auf den aufrechten Gang angewandt. «Man hat gefragt, ob der Mensch bestimmt sey, auf vier Füssen zu gehen, oder aufrecht. Ich glaube, er ist zu keinem von beiden bestimmt; es ist ihm als Gattung überlassen worden, seine Bewegungsweise sich selbst zu wählen. Ein menschlicher Leib kann auf vier Füssen laufen; und man hat, unter Thieren aufgewachsene, Menschen gefunden, die dies mit unglaublicher Schnelligkeit konnten. Die Gattung hat, meines Erachtens, frei
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