Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
Gemüthes und den Ergebnissen menschlicher Wissenschaft ist ein alter nie geschlichteter Zwist.» Sein Ziel war es, diesen «Zwist» zu schlichten; also das, «was man so gern als höhere Ansicht der Dinge» bezeichnet und die Suche nach dem «wahren Sinn des Daseins» mit den scharfkantigen Befunden der Wissenschaft zu versöhnen. Dieses Vorhaben erinnert an das Theorieprogramm Herders; und tatsächlich knüpft Lotze hier ausdrücklich an und bezieht sich schon im Titel seines dreibändigen Unternehmens auf Herders Hauptwerk: Mikrokosmus. Ideen zur Naturgeschichte und Geschichte der Menschheit. Der Anspruch ist auch hier, den Menschen aus dem Gesamtkontext einer geordneten Natur heraus zu erklären. – Umso mehr überrascht die Behandlung, die Lotze im zweiten Band der aufrechten Haltung zuteil werden lässt. Denn gleich zu Beginn distanziert er sich von der «Schwärmerei …, mit der Herder fast alle Vorzüge der Humanität aus dieser einen Quelle ableiten möchte». (1858: 87) Lotzes Überlegungen lohnen vor allem deshalb eine nähere Betrachtung, weil sie eine Art Schlusspunkt unter die klassische Deutung dieses Merkmals setzen und damit die Distanz erkennen lassen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu dieser Deutung längst hergestellt war. Dass dieser Schlusspunkt von einem durchaus ‹kosmologisch› inspirierten Autor gesetzt wurde, macht deutlich, wie definitiv das Ende war, das er anzeigte.
Lotze wendet sich gegen die verschiedenen Varianten «einer symbolischen Deutung der Naturformen», die wir zunächst in der Antike, dann auch bei christlichen Autoren kennengelernt haben und die auch bei seinen älteren Zeitgenossen noch beliebt waren. [39] In dieser Literatur werden Naturphänomene oder -formen allgemein, die aufrechte Stellung im Besonderen als ein symbolischer Ausdruck von Intentionen aufgefasst, die der Welt und ihren Teilen zugrunde liegen. Demgegenüber will Lotze nicht zugestehen, «daß es der Natur vor allem auf Repräsentation ankomme. Wo sie ein Geschöpf zu einer großen Bestimmung beruft, ist es nicht ihr erstes, ihm eine äußerliche Form als Siegel dieses Berufes aufzudrücken, sondern ihre weit ernstere Mitgift besteht darin, daß sie ihm alle praktischen Mittel zur Geltendmachung dieses Berufes und zur Behauptung seines Ranges zu Gebote stellt. Sie gibt ihm zuerst die Macht etwas zu sein, nicht zuerst die Form, etwas zu scheinen, und sie verläßt sich darauf, daß am Ende der wirkliche Besitz und Gebrauch der Macht auch immer die ausdrucksvollste Art ist, sich ihren Schein zu sichern. Es kam daher wenig unmittelbar darauf an, daß der Mensch zum Symbol seiner Herrschaft seinen Leib aufrichte, eine Stellung, die ihm die Fettgänse des Polarmeeres mit nutzloser Feierlichkeit kopieren; es lag mehr daran, daß diese Stellung allein ihm die Möglichkeit zu jenen Handlungen gab, durch welche er in Wirklichkeit diese Herrschaft über alle anderen Geschlechter ausübt.» (95) Zunächst freuen wir uns natürlich, hier einem alten Bekannten wieder zu begegnen: dem unter dem Namen «Fettgans» auftretenden Pinguin, der auch hier wieder als polarer Kronzeuge gegen das Humanprivileg des Aufrechtseins fungiert. Eingehender betrachten wollen wir aber die Opposition zwischen den Begriffen «Macht» und «Symbol», denn sie wird sich als aufschlussreich erweisen. Beginnen wir mit dem zweiten Begriff.
Lotzes Haupteinwand besagt, dass die symbolische Interpretation des aufrechten Ganges gratis ist. Man kann sich leicht klarmachen, «daß es ja kaum irgend eine erdenkliche Körperform würde geben können, die sich nicht mit gleichem Tiefsinn befriedigend würde deuten lassen. Geht der Mensch aufrecht, so ist es bedeutsam, daß er nur mit den Füßen die Erde berührt, das Haupt zum Himmel hebt; daß nun doch nicht fliegt, ist auch bedeutsam, denn er bezeugt dadurch seinen steten Zusammenhang mit der Erde, seiner Mutter; ginge er nun auf vier Füßen wie die Giraffe, so wäre es noch bedeutsamer, denn dann wendete er der Mutter Erde, wie es Recht ist, nur sein irdisches Teil, den Leib, zu, während das Haupt, Niederes verachtend, zur Höhe strebte. Jetzt, da der Mensch seine Brust breit gewölbt den Stürmen entgegenkehrt, wie bedeutsam ist dieser erwartende Trotz! Hätte er aber das vorstrebende Brustbein des Vogels, so wäre das wiederum bedeutsam, denn nun schiene erst recht sein Mut dem Strome der Dinge entgegenzustreben; wäre endlich seine Brust vertieft und ausgehöhlt, wie gemütvoll
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