Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
symbolisierte dann diese Form die Sehnsucht, die Welt in die Tiefe des eigenen Herzens aufzunehmen! Zu diesem Spiel der Sentimentalität und eines fruchtlosen Witzes führt zuletzt immer die Neigung zu unmittelbarer Deutung von Naturformen, deren Ausprägung als solcher, oder deswegen, weil sie etwa an sich feste Erscheinungsweisen einer Idee wären, gewiß nie zu den Absichten der Natur gehört.» (96) Symbolische Deutungen, heißt das, werden der Natur nicht entnommen, sondern auf sie projiziert. Obwohl Lotze das kosmologische Denken fortsetzen und auf die Höhe seiner Zeit heben will, distanziert er sich mit seiner Ablehnung symbolischer Deutungen von einem seiner grundlegenden Charakteristika. Der Kosmos soll ja eine sinnhafte Ordnung sein, in der die ontologischen Strukturen zugleich Bedeutung haben. Der Mensch ist ein Mikrokosmos und seine Gestalt ein Symbol dafür. Gehört die Natur aber nicht zu den Dingen, die nach Art eines Text oder Bildes einen semantischen Gehalt haben, kann auch der aufrechte Gang nichts ‹bedeuten›.
Er kann aber eine Funktion oder Wirkung haben. Darauf spielt Lotze mit dem Begriff «Macht» an. Wenn die Natur, so hatte er anthropomorphisierend gesagt, ein Geschöpf zu einer Bestimmung berufe, so zeichne sie es nicht durch eine symbolische Gestalt aus, sondern stelle ihm «alle praktischen Mittel» zur Verfügung, die es benötige, diese Berufung zu erfüllen. Als ein solches Mittel müsse auch die aufrechte Haltung verstanden werden. Sie befreie die Hände, ermögliche ihre Ausbildung zu einem universellen Werkzeug und mache den Weg zur technischen Herrschaft über die Welt frei. «Daß die Natur ihm diese Werkzeuge des Schaffens zu dem mannigfaltigsten Gebrauche frei ließ und sie nicht zu dem einförmigen Geschäfte der Stützung des Körpers verbrauchte, darin beruht die wahre und große Bedeutung der aufrechten Stellung, in welcher man zu allen Zeiten das Übergewicht der menschlichen Bildung über alle verwandten tierischen gefunden hat.» (86) Der aufrechte Gang ist also nicht Ausdruck, sondern Ermöglichungsbedingung der menschlichen Sonderstellung. – Natürlich war Lotze nicht der erste, der den praktischen Nutzen zur einzigen Erklärungsressource für die Aufrichtung des Menschen beförderte. Schon Forsters Kritik an Herder hatte wesentlich auf diesem Gedanken beruht. Und noch früher hatte Christian Wolff gegen den ovidischen Topos eingewandt: Dass wir aufgerichtet gehen und stehen, kann nicht auf eine Bestimmung zur Himmelsschau zurückgeführt werden, denn «wir haben ein Exempel an dem Kameele, welches seinen Kopff erhabener träget als der Mensch, und auch nach dem Himmel sich freyer als er umsehen kan: Wer wollte aber sagen, das Kameel habe deswegen für andern Thieren seinen Kopff erhaben, damit es sich nach dem Himmel umsehen solle.» (1725: 566f.) Die Lösung des Rätsels ergibt sich für Wolff, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die Vorteile richten, die uns aus der aufrechten Haltung erwachsen: Die Freiheit der Hände. Der Mensch, so folgert er, sei von Gott aufrecht geschaffen, damit er technisch handeln könne. Obwohl sich Wolffs Argumentation noch im Rahmen des teleologischen Denkens bewegte und von einer göttlichen Planung ausging, war ‹Gott› hier ein völlig anderer geworden. Er war nicht mehr der platonische oder der laktanzische Gott, der sein Lieblingsgeschöpf für die Betrachtung des Himmels ausstattet. Aus dem Gott des Schauens und Betens war der Gott der Technik und der Arbeit geworden: ein bürgerlicher Gott eben. Philosophisch hatte sich die Umstellung von symbolischen auf funktionale und kausale Erklärungen also lange angebahnt, als der zweite Band des Mikrokosmus 1858 erschien und als ein Jahr später Darwin in seinem Origin of Species eine Theorie vorlegte, in der dieser explanative Utilitarismus auch naturwissenschaftlich ausbuchstabiert wurde. ‹Anpassung› ist ein Prozess, der allein durch handfeste biologische Faktoren zustande kommt.
Mit dieser Umstellung der Erklärungsgründe werden alle ‹intrinsischen› Qualitäten der aufrechten Haltung entwertet. Das lässt sich leicht an ihrer Schönheit zeigen. Dass sie die schönste aller möglichen Körperhaltungen ist, stand schon für Platon ebenso fest wie für die Stoiker und wurde von den Kirchenvätern für das christliche Denken bekräftigt. Wer möchte denn leugnen, fragt Ambrosius von Mailand (Exam. IX,54) rhetorisch, dass der Mensch an Schönheit und Vorzüglichkeit alles
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