Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)

Titel: Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Bayertz
Vom Netzwerk:
störanfällig sind. Die Evolution verfährt nicht wie ein Ingenieur, der ein Gerät entwirft und konstruiert, sondern wie ein Heimwerker, der ein ausrangiertes Gerät für seine Zwecke und mit seinen Mitteln umfunktioniert. Die aufrechte Haltung ist das wohl eingängigste Beispiel für die unbefriedigenden Resultate solcher Bastelei; in der evolutionstheoretischen Literatur erfreut sie sich daher einer gewissen Beliebtheit, wenn es um die Entzauberung der Natur und ihrer Vorgehensweise geht. [38] Besonders häufig wird dabei neuerdings auf ein Problem verwiesen, das bemerkenswerterweise weder von Moscati, noch von Clevenger erwähnt wird: die degenerativen Erkrankungen der Wirbelsäule. In allen Industrieländern gehören Rückenschmerzen zu den häufigsten Erkrankungen überhaupt: 56 Prozent der Bevölkerung geben an, daran zu leiden. In Deutschland gehen etwa 4 Prozent der gesamten Arbeitskraft durch entsprechende Krankschreibungen verloren; in Großbritannien betragen die Gesamtkosten ca. 2 Milliarden Pfund. (Göbel 2001)
    Kann und sollte man, diese Fakten vorausgesetzt, die menschliche Wirbelsäule mit dem Prädikat «Meisterstück der Evolution» (Putz 2007: 71) auszeichnen? Die Berechtigung zu einer solchen Belobigung hängt von der Perspektive ab, in der man sie vornimmt. Betrachtet man die Wirbelsäule aus dem Blickwinkel der Ausgangs- und Randbedingungen, unter denen die Evolution zu operieren hatte, so wird man in Rechnung stellen müssen, dass sie zwei gegenläufigen Anforderungen zu genügen hat. Einerseits soll sie dem Körper Stabilität geben, andererseits aber auch Mobilität zulassen. Diese Anforderungen konkurrieren miteinander und können nicht beide maximal erfüllt werden. Jede mögliche Konstruktion steht vor einem Optimierungsproblem und kann nicht mehr als einen Kompromiss zwischen den divergierenden Anforderungen bieten. Hinzu kommt, dass die zur Verfügung stehenden Materialien des passiven Bewegungsapparates ursprünglich von Lebewesen entwickelt wurden, deren maximale Lebenserwartung kaum mehr als 40 Jahre betrug. Für diesen Zeitraum sind sie haltbar genug. In modernen Gesellschaften ist die Lebenserwartung der Menschen aber doppelt so hoch. Dem unter diesen Bedingungen unvermeidlicherweise auftretenden Verschleiß kann auf evolutionärem Wege aber grundsätzlich nicht entgegengewirkt werden, weil günstige Mutationen sich erst nach der Generationsperiode der Individuen auswirken würden und daher außerhalb der Reichweite der Selektion liegen. (Putz 2007) – Damit erweist sich die Hoffnung als trügerisch, mit der Clevenger uns zu trösten versucht hatte: Die Evolution kann die Mängel nicht beseitigen, die sie selbst angerichtet hat. Wir müssen mit diesen Mängeln entweder leben oder ihnen aus eigener Initiative und Verantwortung mit biotechnologischen Maßnahmen entgegenwirken.

22. Der Wille zur Selbstaufrichtung
Die Hauptsache ist bei der langsamen Entwickelung dass der Mensch alles selbst hervorbringen muß was zu seiner Entwickelung gehört, es muß aus ihm selbst gesetzt sein, Gehen, Stehen pp muß er selbst lernen, der Mensch steht nur weil er will, es ist fortdauernder, gewohnter Willen, ist Gewohnheit die Willen ist …
G. W. F. Hegel
    Es ist hinlänglich bekannt, wie groß die Irritation war (und oft noch heute ist), die das evolutionäre Bild vom Menschen hervorrief. Die Entzauberung des aufrechten Ganges war dabei ein vergleichsweise marginaler, aber doch symptomatischer Aspekt. Dass die Irritationen nicht immer die Frucht nüchternen Denkens waren, geht aus einem kleinen Gedicht hervor, das Wilhelm Busch aus gegebenem Anlass verfasste:
Sie stritten sich beim Wein herum,
Was das nun wieder wäre;
Das mit dem Darwin wär’ gar zu dumm
Und wider die menschliche Ehre.
Sie tranken manchen Humpen aus,
Sie stolperten aus den Türen,
Sie grunzten vernehmlich und kamen zu Haus
Gekrochen auf allen vieren.
    Den echauffierten Zechbrüdern war entgangen, dass die empirischen Wissenschaften schon seit langem an dem traditionellen spiritualistischen Selbstverständnis des Menschen zu nagen begonnen hatten und dass Darwins ‹Affentheorie› daher nur der vorläufige Höhepunkt dieser Tendenz zur Naturalisierung des Menschen war. Bereits 1856, also immerhin drei Jahre vor der Veröffentlichung des Origin of Species, hatte der Göttinger Philosoph Hermann Lotze den ersten Band seines anthropologischen Hauptwerkes mit dem Satz eingeleitet: «Zwischen den Bedürfnissen des

Weitere Kostenlose Bücher