Der aufrechte Gang: Eine Geschichte des anthropologischen Denkens (German Edition)
sich vom Boden emporgehoben, und sich dadurch das Vermögen erworben, ihr Auge rund um sich herum zu werfen, um das halbe Universum am Himmel zu überblicken, indeß das Auge des Thieres durch seine Stellung an den Boden gefesselt ist, welcher seine Nahrung trägt. Durch diese Erhebung hat es der Natur zwei Werkzeuge der Freiheit abgewonnen, die beiden Arme, welche, aller animalischen Verrichtungen erledigt, am Körper hängen, blos um das Gebot des Willens zu erwarten, und lediglich zur Tauglichkeit für die Zwecke desselben ausgebildet werden. Durch ihren gewagten Gang, der ein immerfort dauernder Ausdruck ihrer Kühnheit und Geschicklichkeit ist, in Beobachtung des Gleichgewichts, erhält sie ihre Freiheit und Vernunft stets in der Übung, bleibt immerfort im Werden, und drückt es aus. Durch diese Stellung versetzt sie ihr Leben in das Reich des Lichts, und flieht immerfort die Erde, die sie mit dem kleinsten möglichsten Theile ihrer selbst berührt. Dem Thiere ist der Boden Bette, und Tisch; der Mensch erhebt alles das über die Erde.» (1796: 382) Es ist leicht zu erkennen, dass Fichte hier auf die zeitgenössische Debatte zwischen Moscati, Herder, Kant etc. anspielt, ihr aber eine freiheitstheoretische Wendung gibt: Der Mensch ist nicht zum aufrechte Gang bestimmt, sondern richtet sich aus eigenem Entschluss auf. Dabei findet sich inmitten der gängigen Motive ein bemerkenswerter Hinweis auf die damit verbundenen Risiken. Der aufrechte Gang ist ein «gewagter Gang», der Kühnheit und Geschicklichkeit voraussetzt, zugleich aber auch Freiheit und Vernunft fördert. Indem der Mensch die Aufrichtung wählt, heißt das, wählt er zugleich auch Freiheit und Vernunft. Er macht sich selbst zu dem, was er ist: körperlich und geistig.
Das alles ist natürlich Philosophie! Ambitionierte Gedanken also, deren Höhenflug durch empirische Bodenhaftung nicht ernsthaft eingeschränkt zu sein scheint. Doch Vorsicht! Das Subjektivitätsbewusstsein mag bei Philosophen besonders stark ausgeprägt sein, beschränkt ist es auf sie nicht. Sein Vordringen ist Teil eines Denktypus, der sich im 18. Jahrhundert auf vielen Gebieten durchsetzt und auch die empirischen Wissenschaften nicht ausspart. Wir sehen das bei dem französischen Physiologen Anthelme Richerand, einem Zeitgenossen von Fichte und Hegel, wenn er zur Erklärung der späten und mühsamen Aufrichtung des menschlichen Individuums auf die Schwäche des Säuglings verweist. In diesem Zusammenhang macht er auch auf das Fehlen der dreifachen Biegung der Wirbelsäule aufmerksam, das die physische Organisation des Säuglings den Quadrupeden ähnlich werden lasse. (1811: 276ff.) Das menschliche Individuum beginnt als physischer Quadrupede, um sich dann aus eigenem Willen, wie Hegel sagen würde, in jedem Fall aber durch eigenes Handeln in einen Bipeden zu transformieren. Wem diese Schlussfolgerung zu weit geht, lese ein Jahrhundert später bei Adolf Portmann nach, der uns wissen lässt, dass kein einziges unter den Säugetieren seine artgemäße Haltung «durch aktives Streben und erst längere Zeit nach der Geburt» erreicht. Selbst Menschenaffen, die ein reicheres Programm arttypischer Bewegungen zu erlernen hätten, benötigten dafür eine deutlich kürzere Zeit. «Beim Menschen aber liegt eine schon bei der Geburt weit entwickelte neuromuskuläre Organisation bereit, die erst Monate später ihre umfangreiche endgültige Gestaltung beginnt; diese Ausformung aber erfolgt nicht durch einfaches Einüben von in der Anlage bereits gegebenen Dispositionen, sondern durch besondere, nur diesem Organismus eigene Akte des Strebens, Lernens und Nachahmens, während der Körper unter sehr auffälligen Verschiebungen im Wachstum seiner Teile sich weiter formt. Unter der Mitwirkung dieses Strebens erreicht auch der eigentliche Körperbau seine artgemäße Ausprägung. Die Wirbelsäule, die beim Neugeborenen noch fast geradegestreckt ist, erhält erst spät die charakteristische Krümmung einer federnden Stützstruktur des senkrechten Körpers; entsprechend spät und mit bedeutenden Formprozessen nimmt auch das Becken seine typische Stellung ein. Vergehen doch fast drei volle Jahre des kindlichen Lebens, bis Becken und Wirbelsäule annähernd die Form der reifen Gestalt zeigen.» (1944: 70f.) [44] Auch unabhängig von ihrem speziellen theoretischen Kontext lassen Portmanns Überlegungen eine weitreichende Botschaft erkennen: Wenn sich die von ihm genannten Elemente der menschlichen
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