Der Aufstand
schoss es Alex durch den Kopf. In eine Viertelsekunde würde die Klinge ihre Luftröhre durchschlagen, durch ihren Hals dringen und schließlich, bevor sie wieder herauskam, die Wirbelsäule durchtrennen. Ihr Kopf würde vermutlich noch vor ihrem Körper ins Wasser fallen.
Aber eine Viertelsekunde war für einen Vampir eine Menge Zeit. Alex sprang aus der Reichweite der Klinge und landete sechs Meter weiter unten auf einer breiten Strebe. Im Wald aus weißem Stahl konnte sie Greg nicht mehr sehen. Wo war er?
Lillith schaute kurz auf sie hinab, bevor sie sich ebenfalls fallen ließ und drei Meter von Alex entfernt aufkam.
Durch die Bewegung des Riesenrads war eine weitere Gondel nun mit ihnen auf einer Höhe. Alex erkannte entsetzt die Gesichter, die sie durch das Glas der Gondel mordlustig angrinsten: der kräftige schwarze Vampir, sein verschlagener kleiner Freund und die Blondine in der weißen Lederjacke. Der Riese durchbrach das Glas, als wäre es nichts, und kam auf sie zu. Die Neun-Millimeter-Pistole wirkte in seiner Hand wie ein Spielzeug.
«Überlass sie mir, Zachary», schrie Lillith, doch bevor sie zu Ende reden konnte, hatte der hinterhältige Kleine bereits seine Waffe gezogen und einen Schuss abgefeuert. Die Kugel prallte von einem dicken Rohr knapp neben Alex’ Kopf ab. Im selben Augenblick stieß Lillith einen Schrei aus. Sie ließ das Schwert fallen und griff sich ans Handgelenk. Der Querschläger hatte sie erwischt. Einen Augenblick lang sprach aus ihren Augen das pure Entsetzen, als sie sich auf die Wirkung des Nosferol gefasst machte, doch dann rollte sie den Ärmel ihres roten Jumpsuits zurück, und Alex sah das goldene Armband an ihrem Handgelenk, das sie gerettet hatte.
«Anton, du Schwachkopf!», zischte Lillith ihrem Gefährten zu.
Alex nutzte den Moment der Verwirrung und stürzte sich vom Riesenrad hinab in die Tiefe. Die weißen Rohre schossen an ihr vorbei, als sie im freien Fall auf den Boden zuraste. Vampire können einiges vertragen, doch noch nie hatte Alex ihr Glück so herausgefordert. Es waren mit Sicherheit gut sechzig Meter bis zum Boden.
Der Aufprall raubte ihr den Atem. Sie ging in die Knie, um zu verhindern, dass ihre Oberschenkelknochen ihre Schulterblätter durchstießen, und rollte sich ab wie ein Fallschirmspringer. Benommen lag sie ein paar Augenblicke lang da, während sie herauszufinden versuchte, ob ihr Körper noch intakt war oder sie den Rest der Ewigkeit als ein Haufen Hackfleisch verbringen musste. Jemand kreischte entsetzt auf, und von überall her drangen Stimmen zu ihr.
«Mein Gott, hast du das gesehen?»
«Sie ist runtergefallen.»
«Nein, Scheiße, gesprungen ist sie.»
«Der Krankenwagen ist bestimmt schon unterwegs.»
«Ist sie tot?»
«Ich denke schon.»
«Klar ist sie tot.»
«Oh mein Gott …»
Alex bewegte sich erst zaghaft, dann rappelte sie sich auf und wischte sich ihre staubigen Hände ab. Mit ihr schien alles in Ordnung. Die Menge, die sich um sie herum gesammelt hatte, trat erschrocken zurück. Schock sprach aus den Gesichtern. Zeuge eines Selbstmords zu werden, war das eine. Aber mit ansehen zu müssen, wie der Leichnam anschließend aufsteht und seelenruhig davonspaziert, war offenbar zu viel für die Leute.
Die meisten Partybesucher, die sich nach der Schießerei noch unter dem London Eye aufhielten, drängten sich wie Überlebende einer Katastrophe blass, schweigend und schockiert in irgendwelchen Ecken zusammen und warteten auf den Rettungsdienst. Frauen weinten in den Armen ihrer männlichen Begleiter. Über den Leichnam des Mannes von Sicherheitsdienst hatte jemand einen Mantel gebreitet. Das Heulen von Sirenen kam näher. Es klang, als würden die halbe Polizei der Stadt und hundert Krankenwagen durch den Londoner Verkehr auf sie zurasen.
Alex schaute zum Riesenrad hinauf, sah aber keine Spur von Greg. Vielleicht hatte der Kampf ihm die Chance zur Flucht eröffnet – aber andererseits hatte sie ihn auch nicht herunterkommen sehen.
Greg, wo bist du?
Lillith war nur noch eine winzige Gestalt hoch oben auf dem Rad. Nicht einmal sie war so wahnsinnig, einen solchen Sprung zu riskieren.
Alex wusste, was sie jetzt dachte.
Wir sehen uns wieder.
Auch Alex freute sich schon darauf.
Sie blickte noch kurz zu Lillith hinauf, doch als die Krankenwagen und Polizeifahrzeuge unter lautem Sirenengeheul in Sicht kamen und plötzlich überall blaue Lichter herumwirbelten, verschwamm kurz das Bild vor ihren Augen.
War wohl doch ein
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