Der Auftraggeber
sein Vater lesend in einem Sessel, seine Mutter an ihrer Staffelei, Gabriel auf dem Fußboden zwischen ihnen, wo er mit primitiven Bauklötzen ganze Städte errichtete.
Seine Eltern verabscheuten das Hebräische, deshalb unterhielten sie sich miteinander in den Sprachen, die sie in Europa gesprochen hatten: Deutsch, Französisch, Tschechisch, Russisch und Jiddisch. Gabriel lernte sie alle spielerisch. Zu diesen europäischen Sprachen kamen später Hebräisch und Arabisch hinzu. Von seinem Vater hatte er sein perfektes Gedächtnis, von seiner Mutter unerschütterliche Geduld und Liebe zum Detail geerbt. Ihre Verachtung für das Kollektiv zeitigte in Gabriel Arroganz und Einzelgängertum. Ihr weltlicher Agnostizismus war daran schuld, daß er kein Empfinden für jüdische Moral oder Ethik besaß. Wandern war ihm lieber als Fußball, Lesen lieber als Landwirtschaft. Er hatte fast pathologische Angst davor, sich die Hände schmutzig zu machen. Er hatte viele Geheimnisse. Einer seiner Lehrer schilderte ihn als ›kalt, egoistisch, gefühlsarm und rundweg brillant‹. Auf der Suche nach Soldaten für den neuen Geheimkrieg gegen arabischen Terror in Europa stieß Ari Schamron auf diesen Jungen aus dem Jezreeltal, der wie sein Namensvetter, der Erzengel Gabriel, ungewöhnlich sprachbegabt war und die Geduld Salomons besaß. Schamron entdeckte in ihm einen weiteren wertvollen Charakterzug: die Gefühlskälte eines Killers.
Gabriel verließ die Toilette und ging an seinen Platz zurück. Vor dem Fenster zog East London vorbei: endlose Reihen verfallender viktorianischer Lagerhäuser, überall eingeworfene Scheiben und bröckelndes Mauerwerk. Er schloß die Augen. Noch etwas anderes hatte sie während des Unternehmens gegen den Schwarzen September alle krank gemacht: Angst. Je länger sie im Einsatz blieben, desto höher wurde das Risiko, enttarnt zu werden - nicht nur von den europäischen Geheimdiensten, sondern auch von den Terroristen. Unterstrichen wurde das im Verlauf des Unternehmens, als der Schwarze September einen Katsa in Madrid ermordete. Plötzlich wußte jedes Mitglied des Teams, daß es verwundbar war. Für sich zog Gabriel daraus die wertvollste Lehre seiner Laufbahn: Sind Agenten fern der Heimat in feindlichem Gebiet im Einsatz, können Jäger leicht zu Gejagten werden.
Der Zug fuhr in den Waterloo-Bahnhof ein. Gabriel ging mit großen Schritten über den Bahnsteig, bahnte sich seinen Weg durch das Gedränge in der Bahnhofshalle. Sein Wagen war in einer Tiefgarage geparkt. Gabriel ließ die Autoschlüssel fallen, nahm seine rituelle Inspektion des Wagenbodens vor, setzte sich dann ans Steuer und fuhr nach Surrey.
Am Tor war kein Schild angebracht. Gabriel hatte sich immer ein Landhaus ohne Schild am Tor gewünscht. Hinter der Mauer lag ein gepflegter Rasen mit malerisch gruppierten alten Bäumen. Am Ende der sich sanft durchs Gelände schlängelnden Zufahrt stand der weitläufige Klinkerbau eines viktorianischen Landhauses. Er ließ sein Fenster herunter und drückte auf den Klingelknopf der Sprechanlage. Das Objektiv einer Überwachungskamera starrte wie ein mittelalterlicher Wasserspeier auf ihn herab. Gabriel drehte instinktiv sein Gesicht von der Kamera weg und tat so, als müsse er etwas aus dem Handschuhfach angeln.
»Was kann ich für Sie tun?«
Eine Frauenstimme. Mitteleuropäischer Akzent.
»Ich möchte Miss Martinson besuchen. Dr. Avery erwartet mich.«
Gabriel schloß sein Fenster und wartete darauf, daß das elektrische Tor zur Seite rollte; dann fuhr er langsam die Zufahrt hoch. Ein kalter, grauer Spätnachmittag mit leichtem Wind, der die kahlen Zweige der Bäume bewegte. Als er sich dem Haus näherte, sah er einige der Patienten. Eine Frau, die in ihrem Sonntagsstaat auf einer Bank saß und ausdruckslos ins Leerestarrte. Ein Mann in Ölzeug und Gummistiefeln, der am Arm eines hünenhaften schwarzen Krankenpflegers einen Spaziergang machte.
Avery erwartete ihn in der Eingangshalle. Er trug eine teure Cordsamthose, rostbraun und sorgfältig gebügelt, und einen grauen Kaschmirpullover, der eher auf den Golfplatz als in eine psychiatrische Klinik gepaßt hätte. Er schüttelte Gabriel mit kalter Förmlichkeit die Hand, als sei Gabriel der Vertreter einer Besatzungsmacht, und führte ihn dann einen mit Teppichboden ausgelegten langen Korridor hinunter.
»Sie hat diesen Monat einiges mehr geredet«, berichtete Avery. »Es war tatsächlich mehrfach möglich, ein vernünftiges Gespräch mit ihr
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