Der Auftraggeber
Gabriel, den Kopf tief gesenkt, seinen Rucksack über der linken Schulter.
Jacqueline zuckte unwillkürlich zusammen. Sie gewann ihre Fassung zurück, aber da hatte Jusef bereits gemerkt, daß sie durcheinander war. Er blieb stehen und beobachtete, wie Gabriel die Treppe hinunterging, dann musterte er Jacqueline forschend. Er nahm ihren Arm und führte sie zu seiner Wohnung. Nachdem er aufgesperrt hatte, sah er sich rasch in der Wohnung um, bevor er ans Fenster trat und Gabriel nachsah, der in die Dunkelheit davonging.
2 6 Lissabo n
Dichter Atlantiknebel wogte den Rio Tejo hinauf, als Kemel sich bedächtig einen Weg durch die belebten Straßen im Bairro Alto suchte. Früher Abend, Büroangestellte auf dem Heimweg, Bars und Cafés gut besucht, Lissabonner an den Tresen der Cervejarias aufgereiht, um ihr Abendessen einzunehmen. Kemel überquerte einen kleinen Platz: alte Männer, die in der kühlen Abendluft Rotwein tranken; Varinas - Fischweiber -, die in ihren großen Körben Barsche wuschen. Er schlenderte durch eine enge Gasse, in der Straßenhändler billige Kleidung und Schmuck anboten. Ein blinder Bettler bat ihn um ein Almosen. Kemel warf ein paar Escudos in den schwarzen Holzkasten, den er vor der Brust trug. Eine Zigeunerin erbot sich, ihm sein Schicksal aus der Hand zu lesen. Kemel lehnte höflich ab und ging weiter. Das Bairro Alto erinnerte ihn an Beirut in alten Zeiten - an Beirut und die Flüchtlingslager. Im Vergleich dazu wirkte Zürich kalt und steril. Kein Wunder, daß Tariq Lissabon so liebte.
Kemel betrat ein gut besetztes Fado-Haus und nahm an einem der wenigen noch freien Tische Platz. Ein Kellner stellte ihm eine grüne Flasche Hauswein und ein Glas hin. Er zündete sich eine Zigarette an und schenkte sich ein Glas Wein ein. Einfach, bestimmt kein großer Wein, aber überraschend befriedigend.
Wenig später ging der Kellner durchs Lokal nach vorn und stellte sich neben zwei Gitarristen. Als die Musiker die ersten melancholischen Takte des Stücks spielten, schloß der Kellner die Augen und begann zu singen. Kemel verstand den Text nicht, aber die sehnsüchtigen Klänge der Melodie nahmen ihn bald gefangen.
Mitten im Lied setzte sich ein Mann an Kemels Tisch, ohne um Erlaubnis zu fragen. Dicker Wollpullover, schäbige Seemannsjacke, unter dem Kinn verknotetes Halstuch, unrasiert. Anscheinend ein Hafenarbeiter. Er beugte sich zu Kemel hinüber und murmelte ein paar Worte auf portugiesisch. Kemel zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, ich verstehe kein Portugiesisch«, sagte er auf englisch.
Er konzentrierte sich wieder auf den Sänger. Das Lied näherte sich seinem emotionalen Höhepunkt, aber nach alter Fado-Tradition hielt der Sänger sich stocksteif, als stehe er stramm wie ein Soldat.
Der Hafenarbeiter tippte Kemel auf den Arm und sprach ihn erneut auf portugiesisch an. Diesmal schüttelte Kemel einfach den Kopf, ohne seinen Blick von dem Sänger zu nehmen.
Nun beugte der Hafenarbeiter sich zu ihm hinüber und sagte halblaut auf arabisch: »Ich habe gefragt, ob du Fado - Musik magst.«
Kemel wandte sich dem Mann zu und studierte ihn aufmerksam.
»Komm, wir gehen irgendwohin, wo's ruhiger ist, damit wir reden können«, sagte Tariq.
Sie gingen vom Bairro Alto zur Alfama, einem Labyrinth aus schmalen Gassen und Steintreppen, die sich zwischen weißgestrichenen Häusern hindurchschlängelten. Kemel staunte wieder einmal über Tariqs fast unheimliche Fähigkeit, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Der Weg über die steilen Hügel schien ihn zu ermüden. Kemel fragte sich, wie lange er noch durchhalten würde.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte Tariq.
»Welche Frage meinst du?«
»Magst du Fado-Musik?«
»Man kann Geschmack daran finden, glaube ich.«
Er fügte lächelnd hinzu: »Wie an Lissabon selbst. Irgendwie erinnert es mich an die alte Heimat.«
»Fado ist eine Musik, die Leid und Schmerz gewidmet ist. Deshalb erinnert sie dich an die Heimat.«
»Vermutlich hast du recht.«
Sie kamen an einer alten Frau vorbei, die auf den Stufen vor ihrer Haustür kehrte.
»Erzähl mir von London«, verlangte Tariq.
»Allon scheint aktiv geworden zu sein.«
»Das hat nicht lange gedauert. Was ist passiert?«
Kemel erzählte ihm von Jusef und der jungen Frau aus der Kunstgalerie. »Gestern ist Jusef in seinem Hausflur einem Unbekannten begegnet, der ein Israeli gewesen sein könnte. Er vermutet, daß dieser Mann in seiner Wohnung eine Wanze installiert
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