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Der Auftraggeber

Der Auftraggeber

Titel: Der Auftraggeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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zu führen.«
    Gabriel rang sich ein nervöses Lächeln ab. Mit ihm hatte sie in all diesen Jahren nie gesprochen. »Und ihr körperlicher  Zustand?«
    »Unverändert. Sie ist den Umständen entsprechend fit.«
    Avery benutzte eine Magnetkarte, um eine Sicherheitstür zu  öffnen. Dahinter lag ein weiterer Korridor, dieser nicht mit Teppichboden, sondern mit Terrakottafliesen. Unterwegs sprach Avery über die Medikamente, die sie bekam. Er hatte die Dosierung eines Mittels erhöht, die eines anderen verringert und ein drittes völlig abgesetzt. Es gab ein neues, noch in der Erprobung befindliches Medikament, mit dem bei Patienten, die an einer vergleichbaren Kombination aus akutem posttraumatischem Streßsyndrom und psychotischer Depression litten, vielversprechende Ergebnisse erzielt worden waren.
    »Wenn Sie meinen, daß es hilft…«
    »Das erfahren wir nur, wenn wir's versuchen.«
    Klinische Psychiatrie, sagte Gabriel sich, hat viel Ähnlichkeit mit Geheimdienstarbeit.
    Am Ende des Korridors betraten sie einen kleinen Raum. Hier lagerten Gartengeräte - Rosenscheren, Schaufeln, Pflanzkellen -, Tüten mit Blumensamen und Düngersäcke. In der gegenüberliegenden Wand dieses Geräteraums war eine zweiflüglige Tür mit kreisrunden Bullaugen.
    »Sie ist dort, wo sie immer sitzt. Sie erwartet Sie. Bitte, bleiben Sie nicht zu lange. Ich denke, eine halbe Stunde wäre angemessen. Ich hole Sie ab, wenn's Zeit ist.«
    Ein Gewächshaus, bedrückend feuchtheiß. Leah in einer Ecke, auf einem schmiedeeisernen Gartenstuhl mit gerader Rückenlehne sitzend, junge Rosen in Blumentöpfen zu ihren Füßen. Sie trug Weiß. Den weißen Rollkragenpullover, den Gabriel ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt hatte. Die lange weiße Hose, die er ihr während eines Sommerurlaubs auf Kreta gekauft hatte. Er versuchte sich an das Jahr zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Es schien nur Leah vor Wien und Leah nach Wien zu geben. Sie saß steif wie ein prüdes Schulmädchen da und blickte über die Rasenflächen hinter der Klinik hinweg. Ihr Haar war, wie in Anstalten üblich, kurz geschnitten. Ihre Füße waren nackt.
    Als Gabriel auf sie zutrat, drehte sie den Kopf zur Seite. Erst jetzt konnte er den breiten Streifen Narbengewebe sehen, der ihre rechte Gesichtshälfte bedeckte. Wie jedes Mal durchlief ihn bei diesem Anblick ein eisiger Schauder. Dann sah er ihre Hände - oder was von ihren Händen übriggeblieben war. Das verhärtete weiße Narbengewebe erinnerte ihn an die bloßgelegte Leinwand eines beschädigten Gemäldes. Er wünschte sich, er könnte einfach etwas Pigment auf seiner Palette anmischen und Leah ihr normales Aussehen zurückgeben.
    Er küßte sie auf die Stirn, roch an ihrem Haar, um vielleicht die vertrauten Spuren von Lavendel und Zitrone zu entdecken, und nahm statt dessen nur die drückend feuchte Treibhausatmosphäre und die starken Pflanzengerüche in diesem geschlossenen Raum wahr. Avery hatte einen zweiten Stuhl hinstellen lassen, den Gabriel eine Handbreit näher heranzog. Leah zuckte zusammen, als die schmiedeeisernen Beine über die Bodenfliesen scharrten. Er murmelte eine Entschuldigung und setzte sich. Leah sah weg.
    So war es immer. Hier saß nicht Leah neben ihm, sondern nur ein Denkmal zur Erinnerung an Leah. Ein Grabmal. Früher hatte er versucht, mit ihr zu reden, aber jetzt war er damit zufrieden, einfach in ihrer Gegenwart zu sitzen. Er folgte ihrem Blick über die im Nebeldunst liegende Landschaft und fragte sich, was sie dort draußen ansah. Von Avery wußte er, daß es Tage gab, an denen sie nur dasaß und alle entsetzlichen Einzelheiten wieder und wieder durchlebte, ohne damit aufhören zu können oder zu wollen. Wie sehr sie litt, konnte Gabriel sich nicht einmal vorstellen. Er durfte eine Art Abklatsch seines früheren Lebens weiterführen, aber Leah war alles geraubt worden - ihr Kind, ihr Körper, ihr Verstand. Alles außer ihrem Gedächtnis. Gabriel fürchtete, ihre ohnehin schwache Lebenskraft hinge irgendwie von seiner fortgesetzten Treue ab. Ließ er es zu, daß er sich in eine andere Frau verliebte, würde Leah sterben.
    Nach einer halben Stunde stand er auf und zog sein Sakko wieder an; dann ging er vor ihr in die Hocke und ließ seine Hände auf ihren Knien ruhen. Sie sah einige Sekunden lang über ihn hinweg, bevor sie ihren Kopf senkte und seinen Blick erwiderte. »Ich muß gehen«, sagte er. Leah reagierte nicht darauf.
    Als er eben aufstehen wollte, streckte sie plötzlich

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