Der aufziehende Sturm
drückte das Gesicht zu Boden. Auch wenn die Gestalt vor ihr wie ein Myrddraal aussah, war sie doch viel größer und viel, viel wichtiger. Zitternd fiel ihr die Stimme des Großen Herrn ein, als er zu ihr gesprochen hatte.
Wenn du Schaidar Haran gehorchst, gehorchst du mir. Bist du ungehorsam ...
»Du solltest den Jungen gefangen nehmen und ihn nicht töten«, wisperte die Gestalt zischend; es klang wie Dampf, der zwischen Topf und Deckel entwich. »Du nahmst seine Hand und beinahe sein Leben. Du hast dich enthüllt und wertvolle Marionetten verloren. Du bist von unseren Feinden gefangen genommen worden, und jetzt haben sie dich gebrochen.« Sie konnte das Lächeln auf seinen Lippen hören. Schaidar Haran war der einzige Myrddraal, den sie je lächeln gesehen hatte. Allerdings glaubte sie nicht, dass dieses Ding wirklich ein Myrddraal war.
Sie erwiderte nichts auf seine Anklagen. Vor dieser Gestalt suchte man nicht nach Ausflüchten oder log gar.
Plötzlich verschwand die Abschirmung, die sie blockierte. Ihr stockte der Atem. Saidar war wieder da! Die süße Macht. Aber dann zögerte sie, als sie danach griff. Diese Möchtegern-Aes Sedai draußen auf dem Korridor würden mitbekommen, wenn sie die Macht lenkte.
Kalte Finger mit langen Krallen berührten ihr Kinn. Die Haut fühlte sich wie totes Leder an. Sie drückten ihren Kopf nach oben, damit sie den augenlosen Blick erwidern konnte. »Dir ist eine letzte Chance gewährt worden«, wisperten die madenhaften Lippen. »Versage nicht.«
Das Licht verblasste. Die Hand an ihrem Kinn zog sich zurück. Sie blieb knien und kämpfte das Entsetzen nieder. Eine letzte Chance. Der Große Herr belohnte Versagen stets auf ... einfallsreiche Weise. Solche Belohnungen hatte sie schon zuvor ausgeteilt und verspürte nicht den geringsten Wunsch, sie zu empfangen. Sie würden jede Strafe und Folter, die diese Aes Sedai sich einfallen lassen konnten, vergleichsweise kindisch erscheinen lassen.
Semirhage zwang sich auf die Füße und tastete sich an der Wand entlang. Sie kam zur Tür, hielt die Luft an und versuchte es.
Die Tür öffnete sich. Sie schlüpfte aus dem Zimmer, ohne die Angeln quietschen zu lassen. Vor ihr auf dem Boden lagen drei Leichen, die von ihren Stühlen gerutscht waren. Die Frauen, die ihre Abschirmung aufrechterhalten hatten. Da war noch jemand, der vor ihnen auf dem Boden kniete. Eine Aes Sedai. Eine Frau in einem grünen Kleid, deren braunes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden war. Sie hielt den Kopf gesenkt.
»Ich lebe, um zu dienen, Große Herrin«, flüsterte die Frau. »Man hat mir befohlen, Euch zu sagen, dass ein Zwang auf meinem Bewusstsein liegt, den Ihr entfernen sollt.«
Semirhage hob eine Braue; sie war gar nicht auf die Idee gekommen, dass sich unter den hier versammelten Aes Sedai Schwarze befanden. Einen mit der Macht verursachten Zwang zu entfernen konnte sehr ... hässliche Auswirkungen auf die betroffene Person haben. Selbst wenn der Zwang nur schwach war, konnte man das Gehirn durch seine Entfernung ernsthaft schädigen. War der Zwang stark ... nun, das zu sehen würde interessant sein.
»Außerdem soll ich Euch das geben«, sagte die Frau und hob ein Bündel in die Höhe. Sie schlug das Tuch zur Seite und enthüllte einen matt schimmernden metallischen Kragen sowie zwei Armbänder. Der Dominanzkragen. Erschaffen während der Zerstörung der Welt und dem A'dam täuschend ähnlich, mit dem Semirhage so lange gearbeitet hatte.
Mit diesem Ter'angreal konnte man einen Machtlenker kontrollieren. Endlich durchbrach ein Lächeln Semirhages Furcht.
Rand hatte die Große Fäule nur ein einziges Mal besucht, obwohl er sich dunkel daran erinnern konnte, mehrmals in dieser Gegend gewesen zu sein, bevor die Fäulnis das Land krank gemacht hatte. Lews Therins Erinnerungen. Nicht seine.
Der Verrückte murmelte aufgebracht vor sich hin, als sie durch das saldaeanische Buschland ritten. Selbst Tai'daishar wurde unruhig, als sie sich weiter nach Norden wandten.
Saldaea war eine braune Landschaft voller Büsche und dunkler Erde, nicht annähernd so unfruchtbar wie die Aielwüste, aber kaum ein üppiges oder weiches Land. Gehöfte waren weit verbreitet, aber sie hatten fast das Aussehen von Festungen, und kleine Kinder gingen daher wie ausgebildete Krieger. Lan hatte ihm einmal erzählt, dass ein Junge bei den Grenzländern zum Mann wurde, wenn er sich das Recht verdient hatte, ein Schwert zu tragen.
»Ist Euch der Gedanke kommen«, sagte
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